Was die Ukraine braucht

Alle reden nur noch von Israel und es scheint tatsächlich so, als ob man sich an das Leid, das in der Ukraine tagtäglich neu verursacht wird, irgendwie gewöhnt hat. Dabei sitzen die Menschen dort Schutz suchend in den U-Bahnschächten, müssen täglich damit rechnen, dass sie und ihre Wohnungen bombardiert werden. Der Ausfall von Strom und Heizung im bitterkalten Winter wird wegen der gezielten russischen Angriffe auf die entsprechende Infrastruktur ebenfalls Alltag werden.

Und die westlichen Politiker betonen pflichtschuldigst, dass die Unterstützung der Ukraine nicht nachlassen werde, dass die Ukraine alles bekomme, was sie braucht.

Was konkret sie allerdings braucht und wofür, darüber schweigt man sich ziemlich aus.

Für jeden ist ersichtlich, dass das, was die Ukraine zurzeit bekommt, natürlich nicht ausreicht, um die von Russland besetzten Gebiete zurückzugewinnen. Es reicht allenfalls, um mit Mühe und Not weitere Eroberungen Russlands zu verhindern. Ist es das, was die Ukraine „braucht“?

Viele europäische Regierungschefs fordern stärkere Waffensysteme für die Ukraine wie z.B. die Taurus-Systeme und blicken dabei – mangels eigenem Besitz – auf Deutschland. Auch deutsche Oppositionspolitiker, Grüne und FDPler fordern dies und blicken dabei auf den Bundeskanzler. Der aber blickt in die USA.

Was ihm wiederum erstaunlicherweise von Unions-Politikern vorgehalten wird, die doch sonst immer erklären, Deutschlands Wohl und Wehe hinge ausschließlich von der NATO und deren Führungsmacht USA ab. Und damit auch richtig liegen.

Jedenfalls tut der Kanzler nichts ohne Absprache mit den USA, und die sind dagegen, der Ukraine Raketen oder Marschflugkörper mit großer Reichweite zu schicken. Das kann mehrere Gründe haben:

Denkbar ist tatsächlich ein gewisses Maß an Misstrauen der Ukraine gegenüber, die Befürchtung, sie würde solche Waffen trotz gegenteiliger Versprechungen dazu nutzen, Ziele in Russland oder gar direkt in Moskau anzusteuern. Amerikanische Raketen auf Moskau: Da wäre tatsächlich damit zu rechnen, dass Putin die rote Linie übertreten sieht, die er von Anfang an betont hat: eine existenzielle Bedrohung Russlands. Es ist nicht auszuschließen, dass er dann zu weltzerstörenden Maßnahmen greift.

Selbst wenn die Langstreckenwaffen nicht auf Russland gerichtet würden, würde deren Lieferung eine neue Qualität der Beteiligung der NATO an diesem Krieg bedeuten. Und offensichtlich ist man sich auch hier nicht so sicher, wie Putin reagieren würde. Dass er sich in diesem Fall offen mit einem NATO-Land anlegen würde, ist zwar unwahrscheinlich. Aber das Arsenal der Kriegsführung ist groß – und wieder ist nicht auszuschließen, dass eine russische Politik der militärischen Nadelstiche außer Kontrolle geraten und eine Katastrophe auslösen könnte.

Und das zu vermeiden hat offensichtlich höchste Priorität in Washington und auch beim Bundeskanzler. Und dafür sollte man eigentlich dankbar sein. Ein Spiel mit dem Feuer, sprich mit einem zumindest teilweise unzurechnungsfähigen Atomwaffen-Besitzer, wie es manche aus den Reihen der Grünen, der FDP und der Union fordern, wäre geradezu verantwortungslos.

Wenn das alles aber so ist, sind das natürlich sehr trübe Aussichten für die Ukraine: Sie wird den Krieg gegen Russland nicht „gewinnen“ können, so lange die NATO nicht mit ganz massiven Angriffswaffen eingreift (was sie aus den oben genannten Gründen nicht tut). Das erklärt auch, weshalb der Kanzler die Formulierung „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen“ im Gegensatz zu anderen deutschen Politikern nicht verwendet. Russland hat nach wie vor so viele Ressourcen, dass es pausenlos Waffen bauen oder kaufen kann und wird so der Ukraine immer überlegen bleiben.

Schon werden Stimmen innerhalb der NATO laut, dass es schon als „Sieg“ gewertet werden könne, wenn man ein weiteres Vordringen Russlands verhindert. Da beschleicht einen doch ein sehr ungutes Gefühl:

Der Westen liefert Waffen, die weitere Geländegewinne Russlands verhindern. Russland stellt – und da ist die autoritäre Regierung logistisch im Vorteil – seine Wirtschaft zu immer größeren Teilen auf Kriegsgerät um, mit dem sie Rückeroberungen der Ukraine stoppen kann. Die Hoffnung, dass in Russland die Stimmung wegen der großen Verluste kippen und sich gegen Putin richten könnte, kann man vergessen: Wird doch dort die Eroberung jeden kleinen Bauerndorfes als großartiger Erfolg der heldenhaften Armee gepriesen – und die Menschen wollen in übergroßer Mehrheit immer noch dran glauben. Eher kippt die Stimmung in der Ukraine, da nicht nur die Waffen für wirkliche Erfolge fehlen, sondern auch (im Gegensatz zu Russland) allmählich die Soldaten.

Hat sich hier nicht längst ein Stellvertreterkrieg auf dem Rücken der ukrainischen UND der russischen Bevölkerung entwickelt?

So lange dieser Krieg läuft, wird Russland kontinuierlich militärisch und wirtschaftlich geschwächt, vielleicht doch auch gesellschaftlich destabilisiert, was den USA natürlich sehr gelegen kommt. Auf der anderen Seite hat Russland großes Interesse daran, dass sich vor allem die europäischen NATO-Länder militärisch verausgaben (was ja offenkundig längst passiert!) und in der Ukraine-Frage zerstreiten (was ja auch längst der Fall ist). Will man das aber wirklich zu einem neuen dreißigjährigen Krieg mit anschließendem „Erschöpfungsfrieden“ (und extrem dezimierter Bevölkerung) werden lassen? Oder wäre es langsam an der Zeit, sich ehrlich zu machen:

Nichts spricht dafür, dass die Ukraine in absehbarer Zeit die von Russland neu annektierten Gebiete oder gar die Krim zurückerobern kann. Es spricht aber längst auch nichts mehr dafür, dass Putin ernsthaft den ursprünglichen Plan, sich die Ukraine vollständig einzuverleiben, weiter verfolgt.

Man kann nun das Abschlachten von Menschen und die Zerstörung von Lebensgrundlagen weiterlaufen lassen und z.B. von deutschen Politikern aus der (immer noch teils mit russischem Öl und Gas geheizten) warmen Stube mit großem moralischen Impetus erklären, ein Angriffskrieg dürfe sich für den Angreifer niemals lohnen, oder mit geringem politischen Sachverstand behaupten, würde Putin nicht aus der Ukraine vertrieben, würde er als nächstes Polen überfallen (wo der doch gerade sieht, dass eine eher halbherzige Unterstützung eines Nicht-Mitgliedsstaats durch die NATO reicht, um seine Pläne zu vereiteln).

Oder man muss in den saueren Apfel beißen und anerkennen, dass in der Weltpolitik das vermeintlich Wahre und Gute eher selten siegt – und sich endlich zu Verhandlungen bereit erklären?

Hilfreich dafür wäre, wenn der Westen nicht weiterhin russisches Gas und Öl und Diamanten kauft, westdeutsche Großunternehmen (KNAUF) nicht weiterhin einen Großteil ihres Gewinns in Russland erwirtschaften (und damit den russischen Staatshaushalt finanzieren) würden, wenn man nicht die für alle möglichen Bankgeschäfte so typische Schleichwege ermöglichen würde usw. So lange Sanktionen gegen Russland dort ihre Grenzen finden, wo die Interessen der deutschen Wirtschaft („unser aller Wohlstand“, wie es in der Aktionärssendung „Wirtschaft vor acht“ in der ARD heißt) beeinträchtigt sein könnten, macht sich der Westen unglaubwürdig (und strategisch auch schwach).

Und den Moralpredigern aus FDP, Grünen und Union darf man deshalb auch die Frage stellen, ob „unser aller Wohlstand“ wirklich ein so schützenswertes Gut ist, dass ihm zuliebe das jahrelange Abschlachten von Menschen ermöglicht bzw. nicht alles getan wird, um das zu beenden.

Vielleicht vertragen sich punktueller fetter Wohlstand und noch fettere Börsengewinne nicht so recht mit der Forderung nach einer friedlichen, guten und gerechten Welt?

Kriegs-, Geld- und Parteihelden

In Russland werden reihenweise Oligarchen umgebracht oder bringen sich, so liest man, selbst um. Sie werden ihre Gründe haben. Schließlich wissen sie, wie sie in der postsowjetischen Zeit ihre Milliarden angehäuft haben.

Derweil drängt die Ukraine heftig in die EU. Die Ukraine ist Opfer eines spätimperialistischen Überfalls durch Russland. Das kann und muss Vieles erklären.

Taugt das aber wirklich als Rechtfertigung, dass der ukrainische Präsident und besonders der ukrainische Botschafter in Deutschland die ganze Welt mit weniger diplomatischen als mit rüpelhaften Worten abkanzeln wie dumme Schulbuben, wenn die Waffenlieferungen nicht so rollen, wie sich die Ukraine das wünscht?

Taugt das wirklich als Rechtfertigung dafür, das ukrainische Fernsehen gleichzuschalten (es gibt nur noch einen Sender unter Aufsicht der Regierung)?

Taugt das wirklich als Rechtfertigung dafür, „russlandfreundliche“ Parteien verbieten zu können (insbesondere die größte Oppositionspartei), und das von EINEM Gericht innerhalb von vier Wochen?

In Deutschland, dem so mittigen Land der EU, in die die Ukraine so dringend möchte, stricken Schulkinder Schals für Ukraine-Basars, jeder Sportverein führt Sammelaktionen durch, da kommen insgesamt doch ein paar hunderttausend Euro zusammen.

Gänzlich unberührt von all dem ist eine soziale Gruppe, die es schafft, auch medial außen vor zu bleiben: Die ukrainischen Oligarchen. Das sind Leute, die, genauso wie die russischen, deren Jachten man jetzt beschlagnahmt, Milliardengeschäfte unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gemacht haben. Die Forbes-Liste führt gut ein Dutzend mit einem persönlichen Vermögen von mehreren Milliarden auf.

Dass diese die Politik der Ukraine seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion maßgeblich bestimmen, mag ja nicht einmal die ukrainische Regierung bestreiten. Entweder im Hintergrund oder direkt an der politischen Front. Ein paar Beispiele:

Ein Herr Juschtschenko, streng antirussisch und von den USA unterstützt, zerstritt sich zunächst mit seiner Ministerpräsidentin Julia Tymoschenkow (Man erinnert sich? Das war die Dame, die mit ihrem blonden Zopfkranz auftrat wie die Unschuld vom Lande, allerdings einen dreistelligen Millionenbetrag mit „Ölgeschäften“ zusammengeklaut hatte). Eingeknastet und angeblich oder wirklich vergiftet (man weiß es ja wirklich nicht) gab sie den ukrainischen Nawalny.

Darauf folgte bei immer dubioseren Wahl-Inszenierung ein von Russland gestützter Herr Janukowytsch, der abgelöst wurde von dem direkten Milliardärsgauner Poroschenko, der seine Milliarden mit Öl, Rüstung und vor allem Schokolade gemacht hat und die Ukrainer hoffen ließ, er würde mit seinem persönlichen Vermögen für ihren Wohlstand sorgen. Der war in den USA sehr gemocht…

Aktuell mag es ja sein, dass Selensky wegen seiner Beliebtheit als Schauspieler und Komödiant gewählt wurde. Ohne gewaltige finanzielle Unterstützung wird das aber auch nicht funktioniert haben.

Wenn in dieser Situation jetzt Populisten wie Ursula von der Leyen oder der polnische Ministerpräsident Morawiecki fordern, man müsste den Aufnahmeprozess der Ukraine in die EU beschleunigen, kann man Olaf Scholz für seine „Zögerlichkeit“, die ihm so rundum vorgeworfen wird, nur danken. Mitglieder, die die EU bei fast jeder Frage praktisch handlungsunfähig machen, hat diese doch schon genug – vor allem im Osten.

Wie hat die kluge Taz-Journalistin Ulrike Hermann so treffend formuliert:

„Die Ukraine hat Anspruch auf Solidarität und Unterstützung, aber nicht auf Verherrlichung!“

Eine besonders üble Form von Parteipopulismus betreibt inzwischen die neue CDU-Hoffnung Merz: Deutschland solle viel schneller schwere Waffen in die Ukraine liefern, auch das verzögere Scholz absichtlich.

Hat Merz in seiner langen politischen Auszeit als Finanzmanager nicht mitgekriegt, dass (schon vor dem Ukraine-Krieg) die Ausrüstung der Bundeswehr – nach eigener Aussage – allenfalls zu 50% einsetzbar war? Der Rest war Schrott oder in der Werkstatt. Nach 16 Jahren CDU-geführtem Verteidigungsministerium. Das lag übrigens nicht daran, dass man, wie oft zu lesen ist, die Bundeswehr in dieser Zeit „kaputtgespart“ hätte – im Gegenteil: Man hat sie doch förmlich mit Geld zugeschüttet, nur hat sie es nicht geschafft, mit diesem Geld Vernünftiges (so man das bei Waffen überhaupt sagen kann) anzuschaffen. Kam ja offensichtlich nicht so drauf an…

Da werden die 100 Milliarden Sonderschulden so wenig daran ändern wie die zwei Nato-Prozent. Man darf sich schon fragen, ob es eine sinnvolle Strategie ist, einem Unternehmen, das es nicht schafft, mehr als die Hälfte seiner sündhaft teueren Ausrüstung in Schuss (blödes Bild!) zu halten, nochmal mengenweise Geld nachzuwerfen.

Merz Forderung müsste man ehrlicherweise so beantworten: Die Bundeswehr hat nichts Funktionierendes zum Hergeben (außer alten DDR-Beständen!).

Ob es besonders verantwortungsvoll ist, Scholz dazu aufzufordern, in dieser Frage öffentlich schnell Klarheit zu schaffen?

 

Gelegentlich sei hier der Hinweis erlaubt, dass es im benachbarten Literaturblog deutlich entspannter zugeht. Ist auch wichtig:

http://www.textbruch.de