Gelesen: Charlotte Brontë: Jane Eyre, die Waise von Lowood

Es gibt mehrere Verfilmungen dieser Autobiografie aus dem 19. Jahrhundert – und alle triefen sie vor Kitsch. Das darf man den Filmen aber nicht anlasten, denn das Buch trieft genauso.

Es ist die Aschenputtel-Geschichte von Jane Eyre, die als ungeliebtes Waisenkind aufwächst, sich in einem Erziehungsheim erst als Schülerin, dann als Lehrerin durch Fleiß und Intelligenz allmählich Achtung verschafft.

Das hat alles die Anmutung der Lesebuch-Moral aus den 50er Jahren: „Arm, aber sauber“. Als gelegentlich kecke, oft auch Widerworte gebende Gouvernante erregt sie die Aufmerksamkeit und Achtung ihres Arbeitgebers, was damals wohl als Ausdruck von reichlich unerhörter Emanzipation interpretiert wurde. Einigermaßen zu Unrecht, denn schon verliebt sie sich mit Haut und Haar in den knorrigen Adeligen, dessen Leben in die verwickeltsten Verwicklungen verwickelt ist, die man sich nur vorstellen kann. Und natürlich sieht sie ihre Rolle dabei als eine dienende. So widersteht sie dem heftigen Ansinnen eines Vetters trotz aller Moralkeulen, ihn als Missionarsgattin zu begleiten.

Eines Tages findet sie den wegen diverser Unbilden lange verschollenen ehemaligen Geliebten wieder, wenn auch schwer gebeutelt: wegen eines Unfalls erblindet und verkrüppelt. Was die Liebe nur noch heftiger macht, da sie jetzt ganz im Dienen aufgehen kann.

Aber jetzt mal ehrlich: Wer lässt sich denn nicht gerne mal von allerliebstem Kitsch entführen aus der Welt, noch dazu, wenn der wirklich sehr geschickt in Szene gesetzt ist? Ein Glas Rotwein passt übrigens prima dazu. Und spätestens beim zweiten wird auch die Rührung kommen – na und?

Zusätzliches Vergnügen bereitet die Übersetzung von Maria von Borch, zum Beispiel so schöne Sentenzen wie

„Aber jetzt hielt er jede Empfindung fest in seinem Herzen verschlossen: ich ward nicht mehr gewürdigt, sie in Worte gekleidet zu hören.“

Also: Mal Mut zu Muße – und zum Kitsch!

 

Bibel auf bayerisch

Wer in Bayern stirbt, muss in den Sarg. Will er verbrannt werden, muss er IM Sarg verbrannt werden. Will er, dass seine Asche ins Meer oder in einen See gestreut wird, wird die Asche vom Sarg mitgestreut. Da weiß man dann nie, ist es Onkel Fritz (wie bei Kreißler), Fichtenholz oder Tischlerleim.

Ein besonderes Problem haben damit natürlich die Moslems, weil die ihre Toten lieber in Tücher wickeln. Doch da sind die Bayern ganz liberal: Es spräche nichts dagegen, einen Toten erst in ein Tuch zu wickeln. Dann aber rein in den Sarg.

Weil der Sarg nämlich eine bayerisch-christliche Tradition sei, wie sich Melanie Huml, die bayerische Gesundheitsministerin, sicher ist, der auch nicht auffällt, dass sie als Gesundheitsministerin bei Bestattungsfragen doch ein bisschen spät ist.

Abes so sind sie, die Bayern. Egal, was in der Bibel steht.

Bei Lukas zum Beispiel:

„Joseph, ein Ratsherr (…) ging zu Pilatus und bat um den Leib Jesu; und nahm ihn ab, wickelte ihn in Leinwand und legte ihn in ein gehauenes Grab.“

Oder bei Johannes:

„Da nahmen sie den Leichnam Jesu und banden ihn in leinene Tücher“

Aber was schert sich die bayerisch-christliche Tradition um die Bibel oder um Jesus, wenn’s gegen Moslems und für das Schreinerhandwerk geht?

 

Rettet unsere Reichen!

Nicht nur der Retro-Rüpel ist ein Problem bei den streng geheimen Sondierungsgesprächen, hört man, sondern auch die völlig unverschämte Forderung der SPD nach höheren Steuern für Spitzeneinkommen. Total sozialistische Mottenkiste. Sind doch die Reallöhne der Arbeitnehmer 2017 um satte 1,2% gestiegen. Da sieht man mal wieder, dass es, alte Binsenweisheit, den Arbeitnehmern auch was bringt, wenn die Wirtschaft boomt.

Eine kleine Bevölkerungsgruppe, die in der ARD eine echte Fan-Sendung hat, sind die DAX-Aktionäre. Zur besten Sendezeit kurz vor 20 Uhr kann man mitverfolgen, wie die dort moderierenden Fans mitfiebern bei den Gewinnen ihrer Idole – und mitleiden bei deren mannigfachen Widrigkeiten. Unter was haben die nicht ständig zu leiden: Starker Euro, schwacher Euro, Brexit, Facharbeitermangel, hoher Ölpreis, niedriger Ölpreis, Venezuela, starker Dollar, schwacher Dollar, China, Nahles, Scholz und Schulz, VW, VW, Scholz und Schulz, Nahles, China, Mütterrente, schlechtes Wetter und überhaupt die vier Jahreszeiten.

Keine Sau möchte unter diesen Umständen DAX-Aktionär sein.

Zumal die Gewinne ja durchaus unbefriedigend sind. In der Sendung („Börse vor acht“) vom 11.01.2018 gab es dazu ein paar passende Zahlen:

Die DAX-Aktionäre hätten 2017 einen bescheidenen Zugewinn an Dividenden von 35 Milliarden Euro gekriegt, was nur eine Steigerung von 11% ausmache. Der Staat hingegen habe 2017 einen Überschuss von 38 Milliarden Euro erzielt.

Das ist einfach ungerecht.

Und deswegen muss man einen Teil des Staatsüberschusses für Steuersenkungen für die DAX-Aktionäre verwenden, damit endlich Gerechtigkeit herrscht im Land und unsere Reichen überleben können.

Wir brauchen sie doch! Denn wer sollte sonst die Steuern bezahlen?

 

Der Retro-Rüpel

Dass die Franken mit den Bayern nach wie vor nur bedingt klarkommen, hat einen einfachen Grund: Sie lernen es einfach nie richtig:

Beckstein war diesbezüglich ein völliger Versager. Herrmann bemüht sich – meist vergeblich. Nicht einmal Söder, der schon so lange unter Bayern ist, dass er selbst im Anzug läuft, als hätte er eine Krachlederne an, schafft es so richtig:

Das bayerische Rüpeln.

Vorbild aller Bayern ist natürlich Franz Josef Strauß. Bei dem war sogar das Aussehen Rüpelei pur. Weil aus seinem feisten, meist schweißdampfenden Gesicht gelegentlich lateinische Zitate herausgestoßen wurden, schrieb man ihm hohe Intelligenz zu. Ob dieses Urteil haltbar ist für einen Mann, der sich in New York von Huren beklauen ließ, die angesehensten deutschen Schriftsteller als „linke Uhus“ und „Schmeißfliegen“ beschimpfte und schließlich auf dem Gelände einer bayerischen Adelstitel-Usurpatorin seiner eigenen Jagdleidenschaft erlag, sei dahingestellt. Und dass ein Mann, der in zahllosen Bestechungs- und Justizskandalen reüssierte und als Kanzlerkandidat gegen Helmut Schmidt deutlich verlor, immer noch als Übervater der CSU gefeiert wird, bleibt eines der vielen Geheimnisse bayerischer Befindlichkeit.

Als echter Strauß-Wiedergänger rüpelt sich Alexander Dobrindt durch das politische Leben. Dieser Mann merkt in seiner eitlen Selbstgefälligkeit gar nicht, was er außerhalb der bayerischen Bierzelte für eine peinliche Figur abgibt. Dabei ist seine bisherige politische Tätigkeit nichts als eine Ansammlung von Dümmlichkeiten, Pleiten und Pannen. Aber dreist wie sonst keiner. Das gehört zusammen: So viel Dreistigkeit erlaubt sich nur einer, der zu dumm ist, zu merken, wie lächerlich er ist. Dobrindt ist die menschgewordene Dummdreistigkeit. Das ist offensichtlich für die CSU eine hinreichende Qualifikation zum Landesgruppenchef im Bundestag.

Kleiner Auszug seines politischen „Schaffens“ gefällig?
Die Grünen sind seiner Meinung nach, so zitiert ihn die Süddeutsche Zeitung, „der politische Arm von Krawallmachern, Steinwerfern und Brandstiftern“. Als Kretschmann Ministerpräsident von Baden Württemberg wurde, bot er den Industrieunternehmen des Nachbarlandes wirtschaftliches Asyl in Bayern an – wegen der zu erwartenden „rot-grünen Planwirtschaft“.

Griechenland wollte er aus der Eurozone werfen, aber da hatte u.a. „Falschmünzer“ Mario Draghi was dagegen.

Und dann seine größte Lachnummer: Die sog. Ausländermaut. Niemand außer ihm glaubt noch daran, dass die mit europäischem Recht vereinbar wäre. Niemand außer ihm erwartet, dass die im unwahrscheinlichen Falle des Inkrafttretens finanziell irgendetwas bringen würde. Er glaubt daran. Denn er hat es doch so beschlossen. Und ein Dobrindt macht nichts falsch. Punkt. Das ganze Theater zieht sich jetzt seit über sechs Jahren hin. So geht erfolgreiche Politik, auf die man höchst stolz sein kann.

In der Abgasaffäre unterschlug er Untersuchungsergebnisse und verhinderte persönlich die Möglichkeit einer Sammelklage in Deutschland gegen VW. Drum bekommen alle VW-geschädigten Amis ihre Verluste voll ersetzt, die deutschen zahlen sie selbst. So geht erfolgreiche Politik, auf die man höchst stolz sein kann.

Aber halt! Wir wollen fair sein. Natürlich hat Dobrindt etwas erfolgreich durchgesetzt und damit einem großen Problem abgeholfen: Die PUNKTEAMPEL. Die neuen Punkte sind farbig! Grün, gelb, rot! Das heißt, man braucht die Punkte gar nicht mehr zu lesen oder zu zählen, man guckt einfach auf seine Farbe. Das braucht die Welt. Oder CSU-Politiker, die nach Bierzeltbesuchen so betrunken sind, dass sie Rentner totfahren. In diesem Zustand können sie nämlich nicht mehr lesen.

Und jetzt verhandelt er (angeblich) über eine neue Große Koalition. Die SPD-Steuerpläne seien ein „Griff in die Mottenkiste des Sozialismus“, tönt er. Wo er das nur herhat, der alte Wiedergänger? Es müsse jetzt eine „bürgerlich-konservative Wende“ kommen in Deutschland, nicht nur die „geistig-moralische“ von Kohl – zu eigenständigen Formulierungen ist Dobrindt offensichtlich nicht imstande.

Irgendwann wird er mit selbstgefälligem Grinsen in die Koalitionsverhandlungen hineinrumpeln mit der genialen Parole „Freiheit oder Sozialismus!“ Und den SPD-Vertretern zurufen: „Raus, ihr roten Socken!“

Originell, wie er ist.

Die dritte FDP

Bis zum 13. Dezember diesen Jahres ist man im Polplotblog davon ausgegangen, dass es zwei FDPs gibt: Die eigentliche FDP (Lindner) und die stellvertretende FDP (Kubicki). Von anderen hat man ja auch nicht gehört. Bis zum 13. Dezember.

Da meldete sich der frischgekürte bayerische Landesvorsitzende, Daniel Föst, in der MAIN-POST zu Wort, und beeindruckt muss man sagen: Ja, es gibt sie, die dritte FDP. Und die passt.

„237 offene Punkte“ habe es nach über vier Wochen Jamaika-Sondierungen gegeben, weshalb das „Scheitern der Verhandlungen (…) richtig“ gewesen sei, erklärt Föst. Wir wollen uns nicht in so semantische Feinheiten verstricken, ob ein Scheitern richtig sein kann. Die erwähnte Zahl 237 verführt doch eher zu einem kleinen Ausflug in die Mathematik. Dazu braucht es ein längeres wörtliches Zitat aus dem Interview. Föst erklärt sein Programm – jetzt für die bayerische Landtagswahl:

„Wir wollen das Land modernisieren. Alleine schon, wie oft im Zug oder im Auto der Handy-Empfang abbricht. Es gibt in Bayern viel zu tun, auch bei der Bildungsgerechtigkeit oder der frühkindlichen Bildung.“

Das sind je nach Blickwinkel oder Wohlwollen zwei bis sechs Programmpunkte:

Zwei: Modernisieren, Bildung
Drei: Modernisieren, Bildung, Handy-Empfang
Vier: Modernisieren, Bildung, Handy-Empfang im Zug, Handy-Empfang im Auto
Fünf: Modernisieren, Bildungsgerechtigkeit, frühkindliche Bildung, Handy-Empfang im Zug, Handy-Empfang im Auto
Sechs: Modernisieren, Bildungsgerechtigkeit, frühkindliche Bildung, Handy-Empfang im Zug, Handy-Empfang im Auto, viel zu tun.

Macht zwischen 0,8 und 2,5% der Punkte, die zum „richtigen Scheitern“ geführt haben. Aber es geht ja jetzt um Bayern – und da sind die Probleme natürlich viel weniger als irgendwo.

Auch deshalb sehen die FDP-Zahlen in Bayern viel erfreulicher aus, hat man doch nach dem Neinmaika in der Rhön z.B. einen satten Zuwachs von 40% an Mitgliedern. In absoluten Zahlen: Fünf Neueintritte auf jetzt insgesamt elf.

Ziemlich genauso viele, wie Föst an Programmpunkten für Bayern aufzählt, also für jeden Neuen einer. Das schaffen die. Allerdings nur gut 2 % der Probleme, die man bei den Koalitionsverhandlungen für den Bund gezählt hatte. Das schaffen die nicht.

Oder vielleicht doch? So genau kann man das nicht wissen, denn eine Partei ist laut Föst „ein atmender Mechanismus“. Was in letzter Zeit nicht alles schnauft: Ein Flüchtlingsobergrenzendeckel, die Parteien…

Weshalb erinnert das alles an eine Orgel? Wegen der vielen Pfei… Aber wir wollen sachlich bleiben:

Das Scheitern der Jamaika-Verhandlungen, so Föst, habe gezeigt: „Wer FDP wählt, bekommt FDP“. Man kann den Ausstieg der ersten FDP aus den Jamaika-Verhandlungen allerdings auch so sehen: Wer FDP wählt, bekommt – nichts.

Und das ist vermutlich auch gut so.

Gelesen: Irene Dische: Schwarz und Weiß

„Jo hier!“,

so mischt sich die Erzählerin zwischendurch in die Handlung ein, um mal einiges zurechtzurücken oder notwendige Hintergrundinformationen zu liefern. Zu Beginn des Romans stellt sie sich ausführlich vor, aber bis der Leser begreift, welche Rolle die Erzählerin selbst im Roman spielt, dauert es bis zum letzten Drittel dieses famosen Romans.

Man darf jetzt wegen des Titels „Schwarz und Weiß“ und weil der Roman überwiegend in Amerika spielt, nicht erwarten, dass hier ethnische Konflikte abgehandelt werden. In dieser Beziehung wird allenfalls aufs Fröhlichste mit Klischees gespielt.

Die männliche Hauptfigur ist ein Schwarzer mit ganz auffällig blauen Augen, der ununterbrochen in irgendwen verliebt ist. Lange Zeit in die weibliche Hauptfigur, die die Karikatur eines verwöhnten und verzogenen weißen Models ist und deren Eskapaden sich der blauäugige Schwarze nur leisten kann, weil er als Weinsommelier außergewöhnlich erfolgreich ist und sogar eine eigene Fernsehsendung bekommt.

Sie hingegen wird natürlich älter und schließlich wirtschaftlich erfolgreich als Vermarkterin einer dubiosen Privatkirche.

Dann gibt es eine junge Generation (schwarz und weiß), die höchst komplizierten Vater- und Mutterschaftsverhältnissen entspringt und deren Wurzeln bis in ein Königshaus aus Namibia reichen. Und in eine Berliner Weltkriegsruine, weshalb Jo eigentlich auch Lotte heißt.

Da wird kein Zufall und kein Vorurteil ausgelassen, da wird kühn dahinfabuliert, und was rauskommt, ist ein riesengroßer Spaß.

Der Sozialismus der SPD

Von den aktuell spürbar aktiven politischen Parteien in Deutschland ist die SPD historisch gesehen die respektabelste. Historisch gesehen.

Seit Helmut Schmidt, Reichswehroffizier und Aufrüstungsfan, tut sie alles, um diesen Respekt – und ganz folgerichtig auch die Zahl ihrer Wähler – abzubauen. Spätestens seit Schröders „Agenda“ weiß natürlich auch jeder Arbeiter, dass er von der SPD nichts Gutes zu erwarten hat, außer vielleicht einen Mindestlohn, der direkt in die Altersarmut führt.

Irgendwie verständlich, aber doch ohne Not hat man sich nach der Bundestagswahl ziemlich in die Bredouille gebracht mit der sehr schnellen und sehr öffentlichen Absage an eine erneute Große Koalition. Nach Lindners Neinmaika wird alles, was man jetzt tun kann, falsch. Verweigert man sich einer Neuauflage der Großen Koalition, wird Stoppel-Lindner der sein, der der SPD am lautesten staatspolitische Verantwortungslosigkeit vorwirft. Stimmt man ihr zu, hat man ein Problem mit der Glaubwürdigkeit, der Basis, Rüpel Dorbrindt und allem anderen.

Zum großen sozialdemokratischen Streitpunkt für einen Beitritt zur Großen Koalition hat die SPD die Zweiklassen-Medizin in Deutschland ernannt. Die gibt es und die ist ein Problem. Die SPD will dem mit einer „Bürgerversicherung“ beikommen, die CDU/CSU will nicht, was, wenn man sich anschaut, wie diese sog. Bürgerversicherung laut SPD aussehen soll, verwundert:

Alle sollen in eine einheitliche Krankenversicherung einzahlen, so der Plan, auch Selbstständige und Beamte. Soweit Bürgerversicherung.

SPD-Gesundheitsexperte Lauterbach hat allerdings Folgendes ausgeheckt: NICHT einbezogen werden in die Beitragspflicht sollen Miet- Zins- und Kapitaleinkünfte, wozu u.a. auch Aktiengewinne zählen. Die wirklich großen Einkunftsarten bleiben also außen vor. Und der Clou: Es sollen zwar alle anderen Einkommen beitragspflichtig werden, aber die sog. Beitragsbemessungsgrenze von z.Zt. 4350 Euro im Monat soll bleiben. Das heißt konkret: Verdient jemand 4350 Euro im Monat, zahlt er die derzeitigen 7,3% Arbeitnehmeranteil in die Krankenkasse ein, das sind rund 317 Euro. Verdient jemand aber 100 000 Euro im Monat, zahlt er in die Krankenkasse ein: rund 317 Euro. Einkommen bis zu 4350 Euro im Monat sind zu 100% beitragspflichtig. Von den 6 Millionen Jahreseinkommen eines DAX-Vorstandes sind ca. 0,8% (!) beitragspflichtig.

Bürgerversicherung? Oder doch wieder Arbeiter- und Kleinbürgerversicherung, bei der die einkommensschwächere Hälfte der Gesellschaft das gesamte Gesundheitswesen finanzieren muss?

Die Union wird sich gute Argumente überlegen müssen, warum sie dem nicht zustimmen will. Denn unsozialer hätte es auch die FDP nicht hingekriegt.

Gelesen: Arundhati Roy: Das Ministerium des äußersten Glücks

Zweite Romane haben’s schwer. Ihnen geht’s wie zweiten Kindern in einer Familie, wenn das erste so richtig toll gelungen ist. Man stellt unheimlich hohe Erwartungen an sie, verlangt, dass sie mindestens so gut werden wie der Vorläufer, am besten ähnlich, aber noch besser.

So leiden die zweiten Kinder am ungeheueren Anspruch und am übergroßen Vorbild. Dem zweiten Roman geht’s kaum anders (nur dass er nicht leiden kann): Die Erwartungshaltung des Lesers ist riesig, nicht nur, was die Qualität betrifft. Man möchte doch auch Vieles, was beim ersten Roman so gut gefallen hat, wiederfinden.

Und so werden ordentliche und vernünftige zweite Kinder genauso schlecht und falsch beurteilt wie gute zweite Romane.

Wer Arundhati Roys ersten Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ zum Maßstab nimmt, wird enttäuscht sein: Die Wucht der sprachlichen Bilder trifft einen wesentlich seltener, die teils überwältigende Empathie, die man zwangsläufig mit den Figuren aus „Der Gott der kleinen Dinge“ empfand, ahnt man zwar beim Lesen des „Ministeriums des äußersten Glücks“ wieder, aber sie wiederholt sich eben nicht.

Die bereits oben erwähnte Rezensentin des SPIEGEL hat insofern Recht, als sich die politischen Verhältnisse in Indien und in Kaschmir doch etwas in den Vordergrund drängen. Seitenweise Pamphlete der Kommunistischen Partei von Kaschmir ermüden schon. Meist sind die politischen Erläuterungen aber hilfreich, notwendig – und auch lehrreich. Und ehe man sich’s versieht, entwickelt man doch wieder viel Verständnis und Sympathie für die kuriose, bunte Gesellschaft, die sich da am Rande dieser, auf einem Friedhof, eine wenigstens erträgliche Existenz zusammenbastelt.

Als erster Roman wäre „Das Ministerium des äußersten Glücks“ ein ganz ausgezeichneter…

Jetzt im Ernst:

Es ist anzunehmen, dass Lindner spätestens während der Koalitionsverhandlungen gemerkt hat, dass er mit seiner Ein- bis Eineinhalbmannshow ziemlich zerrieben werden wird. Es gab ja Medien, die berichteten, der berühmte Ausstiegssatz mit dem „Lieber gar nicht regieren als schlecht“ sei schon in einer Mail Tage vor seiner Äußerung aufgetaucht.

Man darf sogar vermuten, dass Lindner nie vorhatte, einer Koalition beizutreten, aus mehreren Gründen:

  1. Wie oben beschrieben: Die FDP hat keine Leute, mit denen man im wahrsten Sinn des Wortes „Staat machen“ kann. Selbst Lindner hatte ja noch nie ein Regierungsamt inne, die gesamte Regierungserfahrung beschränkt sich auf Landesminister Kubicki.
  2. Offensichtlich hat die FDP aber auch kein Programm. Sogar Merkel hat vergeblich nachgefragt, was denn nun eigentlich der Grund für den Ausstieg aus den Verhandlungen gewesen sei. Sehr vage hat man zu wenig Bereitschaft zu „Modernität“ vorgeschoben, zu „Digitalisierung“. Dabei hatten doch die anderen Parteien behauptet, sie seien der FDP hier weit entgegengekommen. Konnten sie auch: Hat doch weder die FDP noch eine andere Partei bislang erklärt, was sie unter Digitalisierung verstünde. Wenn niemand sich darüber im Klaren ist, ist fein Entgegenkommen…
  3. Natürlich werben Parteien im Wahlkampf mit der Behauptung, regieren zu wollen. Wenn das aber in der Form passiert, dass eine Person auftritt wie eine Mischung aus Motivationsguru und Versicherungsverkäufer, sprich mit viel Pathos und Eloquenz und mit null Inhalten, dann kann man allein dadurch schon an der Ernsthaftigkeit zweifeln. Es würde tatsächlich für die FDP ja auch gar keinen Sinn machen, in ihrem derzeitigen Zustand als kleiner Partner in eine Koalition einzutreten, in der man plötzlich nicht nur Fortschrittsvisionen predigen darf, sondern konkrete Arbeit leisten müsste. Erfolgsaussichten (auch in der Öffentlichkeit) gleich null.

Nicht weniger interessant ist das Auftreten der Grünen: Nachdem man in Windeseile alle Positionen aufgegeben hat, die im Wahlkampf noch als absolut unverhandelbar dargestellt wurden, verkauft man das jetzt als Ausdruck von staatspolitischer Verantwortung und, man höre, von Patriotismus! Die Grünen als heimatliebende Patrioten! Der Scholle so nah! Da wundert es nicht, dass man Merkel sogar eine Schwarz-Grüne Minderheitsregierung andienert. Im Kampf um die AfD-Stimmen könnte man da die CDU locker rechts überholen und die FDP, die genau dieselben Stimmen will, wäre dann ja draußen.

Dabei wäre eine Minderheitsregierung  aus verschiedenen Gründen politisch spannend und demokratisch positiv: Man müsste wieder diskutieren über politische Vorhaben, Minderheiteninteressen berücksichtigen, alle am Gesetzgebungsprozess jedes Mal beteiligen. Der Politik könnte das nur guttun.

Entlarvend die Gegenargumente: Am geschmacklosesten das von CDU-Frau Klöckner („Deutschland ist nicht Dänemark“, bravo!), am verlogensten das Argument, eine Minderheitsregierung in Deutschland würde Europa schaden, am ehrlichsten das von CDU-Fraktionsvorsitzendem Kauder, es sei nicht „billiger“ (!), bei jedem Gesetzesvorhaben einen Partner finden zu müssen, als mit der SPD eine Koalition einzugehen.

Mit einer Minderheitsregierung wird allerdings schwerer, was man eigentlich will: In Deutschland ordentlich durchregieren und Europa wieder zeigen, wo der Bartel den Most holt.

Die SPD wird’s schon richten.

Dabei (siehe Grüne, siehe Seehofer) regiert die AfD doch längst mit: Plötzlich, wie gruselig, wollen alle die besten Patrioten sein. Sogar Peter Unfried von der taz (!), der an den nationalen Positionen Lindners entdeckt, dass es „für die (…) demokratischen Bedarf gibt“ (Leitartikel am 25.11. S. 2).

Wenn man’s recht betrachtet, hat es für die nationalen Positionen um 1930 auch reichlich „demokratischen Bedarf“ gegeben.