Brathähnchenterrorismus

Nachdem im Augenblick alles, was es zur deutschen Corona-Politik zu sagen zu sagen gäbe, wegen unvermeidbarer Unflätigkeit der Selbstzensur zum Opfer fällt, liefern Polplot und das deutsche Nawalny-Hausmagazin SPIEGEL den doch auch immer mal wieder notwendigen heiteren Moment im Untergang[1]. Denn es gibt sehr wichtige Nawalny-News.

Über Wochen hinweg wurde im Hausmagazin verbreitet, Nawalny würde in der Haft jede ärztliche Betreuung verweigert, jetzt kommt in einem Interview eine überraschende Wende:

Da offensichtlich nicht mehr zu verheimlichen war, dass der selbsternannte Märtyrer im Kampf gegen Putin von einem Neurologen und per MRT untersucht wurde, erklärt seine Anwältin, dass „eine Kommission (…) versucht“ hat, „ihn zu überreden, Medikamente einzunehmen“ (Alle Zitate aus SPIEGEL 15/2021, „Wir fürchten um seine Sicherheit“). „Unser Neurologe“, sagt die Anwältin dem Spiegel, „ist zu dem Schluss gekommen, dass die Behandlung mit den [verschriebenen] Medikamenten nicht wirksam wäre“ – und das, ohne dass der Herr Neurologe den Patienten selbst oder Untersuchungsergebnisse gesehen hat.

Medikamente wären aber wirklich kontraproduktiv. Wahrscheinlich würden sie ja die Taktik stören, den geschundenen und angeblich unbehandelten Gefangenen der Welt als das gefolterte Putin-Opfer zu präsentieren. Da wäre es natürlich besser, wenn „ein Arzt seiner Wahl“, auf den er angeblich Anspruch hat, seine Ergebnisse den westlichen Medien unterjubeln könnte.

Die hierzulande immer als „Straflager“ bezeichneten russischen Haftanstalten scheinen dabei eher komfortabel zu sein. Deutsche Gefangene haben explizit KEIN Recht auf einen Arzt ihrer Wahl – und auch nicht unbeschränkten Zugang zu den „sozialen Medien“, der Nawalny offensichtlich ermöglicht wird.

Als besonders perfide schildert die Anwältin den Umgang des „Lagers“ mit Nawalnys Hungerstreik. Er habe 14 Kilogramm abgenommen, erklärt sie, und dass sie versuche, ihn zum Abbruch des Streiks zu überreden.

Ganz anders dagegen die Schurken der Lagerleitung. Nawalny habe über Instagram „mitteilen lassen, dass versucht wird, seinen Hungerstreik zu boykottieren“, ergänzt die SPIEGEL-Interviewerin. Und weiter (nein, nicht die Anwältin, der SPIEGEL): „Ihm wurden Bonbons in die Hosentaschen gesteckt, Hühnchen in seiner Nähe gebraten.“ Ob die Anwältin darüber mit der „Leitung der Strafkolonie“ habe sprechen können?

Da sind sie wieder, die perfiden Methoden Putins. Bonbons in den Hosentaschen! Um die Moral eines Hungerstreikenden zu untergraben! Extra einen Hühnchengrill „in seiner Nähe“ aufstellen! Da soll doch mit aller Gewalt und geradezu stalinistischen Methoden  die ganze Inszenierung ruiniert werden! Das muss vor den Menschenrechtsgerichtshof! Mindestens.

Nach den vielen Ausrufezeichen zwei Fragzeichen:

  1. Wer steckt eigentlich wirklich hinter dieser traurigen Figur Nawalny, die immer mehr Büchners erbsenfressendem Woyzeck gleicht, und wer finanziert diese ganze Kampagne?
  2. Warum lässt sich der SPIEGEL hier so einfach für eine Verschwörungstheorie instrumentalisieren, wie sie die blödesten Aluhutträger nicht besser zusammenfantasieren könnten, statt einmal wirklich zu recherchieren (analog wie bei „Putins Palast“)?

[1] Abtönungspartikel sind einfach geil!

Dystopie

Als Dystopie bezeichnet man ein literarisches Werk, das einen in welche Richtung auch immer negativ entgleisten Staat schildert. Für Nichtleser gibt es das Modell zurzeit auch live.

„Die Menschen haben die Schnauze voll“ ist eine häufig zu hörende Aussage von Verbandsvertretern, die auf eine geradezu unfassbare Art und Weise nach Lockerungen schreien – trotz extrem steigender Inzidenzzahlen. Selbst wenn der Satz so, wie er gemeint ist, wahr wäre, ist er reichlich hirnrissig: Wenn die Menschen tatsächlich „die Schnauze voll“ hätten von der Virusbekämpfung, hilft ihnen sicher nicht, dem Virus neue Möglichkeiten zur exponentiellen Verbreitung aufzumachen. Denn dann haben allerdings (man verzeihe das schiefe Bild) ganz schnell immer mehr Menschen die Schnauze und andere Organe voll – vom Sars- Corona-2-Virus. Davon abgesehen ist dieser Satz, als „Argument“ für weitere Lockerungen vorgebracht, eine bewusste Lüge: Eine steigend wachsende Mehrheit der Bevölkerung spricht sich inzwischen – im Einklang mit Medizinern und Wissenschaftlern – für eine deutliche Verschärfung der Eindämmungsmaßnahmen aus. Das ist überall nachzulesen. Kein Lobbyist oder Politiker kann behaupten, er wüsste das nicht.

Die Schnauze haben diese Menschen voll vom ewigen Hin und Her an Beschränkungen und irrsinnigen Öffnungen, das zu einer sich rapide verschärfenden Dauerkrise führt und dem massiven Druck fast aller (die wenigen Ausnahmen seien gerühmt) Wirtschaftslobbyisten geschuldet ist.

Deren Verhalten lässt übrigens nur zwei mögliche Schlüsse zu: Wenn sie tatsächlich nicht sehen, dass sie mit ihren Lockerungsforderungen dem eigenen Geschäft richtig nachhaltig schaden, weil die Krise sich über weitere Monate hinziehen wird und ihnen sowohl Mitarbeiter als auch massenhaft Kunden coronabedingt ausfallen werden, dann sind sie zu blöde für ihren eigenen Kapitalismus.

Will man ihnen das nicht unterstellen, bleibt nur, dass sie der Hoffnung sind, dass nach der Katastrophe für den Handel schon noch genügend Kunden und für das produzierende Gewerbe noch genügend vom „Faktor Arbeit“ übriggeblieben ist, um das Geschäft weiterzuführen.

Es sei hier erlaubt, auf das Marxsche Basis-Überbau-Modell hinzuweisen, das grob gesagt festhält, dass im gesellschaftlichen Überbau (Recht, Religion, Politik etc.) immer eine passende Ideologie für die materielle Basis, also die wirtschaftliche Situation, gebastelt wird.

Ist es nicht erstaunlich, dass plötzlich von vielen Seiten (bei Schäuble und Palmer angefangen, über Repräsentanten der Kirchen und der Ethik) eine Debatte über die angebliche Verdrängung des Todes in unserer Gesellschaft aufgemacht wird? Dass ein Schäuble eine Verfassungsinterpretation auftischt, nach der das Leben nicht unbedingt das höchste Verfassungsgut sei und der Tübinger Oberbürgermeister die Frage stellt, warum man die Alten behandeln sollte, die doch ohnehin bald sterben würden? Ziemlich knallhart wird hier der barocke „memento-mori“-Gedanke aufgetischt, der schon damals keinen anderen Zweck hatte als den, die Menschen an das massenhafte Sterben zu gewöhnen.

Dass sich die Menschen weniger mit dem Tod beschäftigen würden als früher, ist eine ziemlich vage Vermutung. In den gewinnorientierten Medien wird das Thema nur aufgegriffen, wenn sich aus Sensationsgier mehr Konsumenten generieren lassen. Und die Rolle der Kirchen in der öffentlichen Debatte ist nun mal deutlich geringer geworden als früher – wenn man hier auch Morgenluft wittert und in Predigten die „seelische Gesundheit“ in der Vordergrund stellt.

Der massive Druck der Wirtschaft, die immer unverhohlener z.B. vom Wirtschaftsminister fordert, er habe in Berlin durchzusetzen, dass sie weiterhin unbehelligt und ertragreich ihre Geschäfte führen könnte, führt aktuell zum politischen Suizid. Die Bundeskanzlerin ist ob des bornierten Verhaltens der Ministerpräsidenten abgetaucht; diese beschäftigen sich schon jetzt mit Überlegungen, wie sie eine bundesweite Regelung einerseits fordern, dann aber schnellstmöglich aushebeln könnten. Selbst Landräte verwahren sich inzwischen dagegen, „aus Berlin“ „politische Vorschriften“ zu bekommen  und wollen in einer grotesken Überspitzung der deutschen Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts ihre Gesetze selbst machen.

Es ist neben der körperlichen ganz offensichtlich die geistige Gesundheit, die dieses Virus angreift.

Zum Ministerpräsidenten der Woche ist der Sachse Michael Kretschmer zu küren. Der erklärte heute, man müsse einen neuen „gesellschaftlichen Konsens“ bei der Pandemiebekämpfung finden, und der könne nicht in den Inzidenzzahlen liegen, sondern in der Belastbarkeit des Gesundheitssystems.

Die allernächste Zukunft wird Herrn Kretschmer, der offensichtlich seit Wochen in geistiger Quarantäne lebt, zeigen, wie diese beiden Faktoren zusammenhängen. Sein neu erfundener „gesellschaftlicher Konsens“ wird sich dann in langen Staus von Krankenwagen vor den Kliniken in Dresden und Leipzig manifestieren.

Und man wird ihn nicht zur Rechenschaft ziehen können, ebenso wenig wie alle diejenigen, die entgegen der dringlichsten Warnungen von Medizinern und Wissenschaftlern Tausende von vorzeitig Verstorbenen wissentlich oder zumindest fahrlässig hinnehmen.

Rotzlöffel, erbärmliche

Es fällt wirklich nicht leicht, der deutschen Politik zurzeit irgendwelchen Respekt zu zollen. Am ehesten tatsächlich noch der Bundeskanzlerin, die die Verantwortung für eine verunglückte Beschlussvorlage aus ihrem Haus auf sich nimmt und um Entschuldigung bittet – ohne darauf hinzuweisen, dass dieser Vorlage alle 16 MinisterpräsidentInnen zugestimmt haben.

Jetzt, nachdem die Kanzlerin die Vorlage zurückziehen musste, kommen die peinlichen Erklärungen dieser Damen und Herren, sie hätten von Anfang an Zweifel an der Vorlage gehabt, nur angesichts der späten Stunde zugestimmt. Sieht so Verantwortung aus? Waren sie halt ein bisschen müde, die Landesfürsten und – fürstinnen. Kann ja mal passieren, auch in der schlimmsten Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Wach waren sie bisher immer nur, wenn es darum ging, sinnvolle Vorlagen zu zerreden, aufzuweichen, oder auch, sie mitzubeschließen, um sich dann selbst im eigenen Bundesland nicht daran zu halten.

Als die Sitzung am Montag wegen heilloser Streiterei für Stunden unterbrochen werden musste, was machen die „FürstInnen“ da? Setzen sie sich hin und machen sich Gedanken, welchen Beitrag zur Lösung sie vielleicht leisten könnten? Beraten sie in der Pause (vielleicht im kleinen Kreis) untereinander, ob es nicht doch Möglichkeiten zu einem tragfähigen Kompromiss geben könnte? Nein. Wie pubertierende Rotzlöffel lassen sie das Leitungsquartett beraten und posten stattdessen gelangweilt große Ä’s in die Welt.
Wenn man schon so stolz ist, endlich mal was zu sagen zu haben und wirklich die Macht im eigenen Bundesland ausüben zu können: Könnte man die nicht vielleicht auch ein bisschen sinnvoll nutzen? Man wusste doch, um was es in der Ministerpräsidentenkonferenz gehen würde. Und wenn man selbst juristisch schon erschreckend ahnungslos ist: Reicht die Macht oder das diplomatische Geschick der Länderchefs nicht einmal dazu, für eine Nacht EINEN Verfassungsrechtler und vielleicht noch EINEN Wirtschaftswissenschaftler zu organisieren, mit dem man sich in den Verhandlungspausen beraten und anschließend fundierte Beiträge in die Diskussion einbringen kann? Wird man seiner Verantwortung wirklich gerecht, wenn man da einfach nichts tut oder blöde Spielchen treibt? Man könnte so ein Verhalten durchaus als unterlassene Hilfeleistung mit zigtausendfacher Todesfolge bezeichnen.

Von der AfD war ja nichts anderes zu erwarten. Aber dass sich auch noch Dietmar Bartsch, Fraktionsvorsitzender der Linken, zu der parteipolitischen Posse hinreißen lässt, die Kanzlerin zur Vertrauensfrage nötigen zu wollen, enttäuscht schon sehr. Ihm müsste doch bewusst sein, was eine abgelehnte Vertrauensfrage bedeuten würde:

a) ein konstruktives Misstrauensvotum. Nur gibt es weit und breit niemanden, auf den sich der Bundestag als neuen Kanzler einigen könnte. Also gäbe es als weitere Möglichkeit:
b) Die Kanzlerin bleibt – politisch schwer beschädigt und ohne eigene Mehrheit – im Amt oder es gibt
c) Neuwahlen (innerhalb von 60 Tagen!), mitten in der Pandemie.

Das sind im Augenblick alles destruktive und widersinnige Szenarien.

Nahtlos fügt sich übrigens in diesen Haufen an Verantwortungslosigkeit ARD-Journalist Oliver Köhr ein: Im Bericht aus Berlin insistiert er ebenfalls darauf, dass die Kanzlerin die Vertrauensfrage stellen müsste. Und auf den Vorschlag der Grünen, politische Entscheidungen auch zur Pandemie wieder mehr in den Bundestag zu verlegen, fällt ihm als Gegenfrage ein, wie man denn, wenn sich schon 16 Ministerpräsidenten nicht einig würden, darauf hoffen könne, dass sich 709 Abgeordnete einigen würden.

Dümmer kann man als politischer Journalist eigentlich nicht fragen.

Sorry, Hirn!

Manchmal erfährt man Dinge, für die man sich bei seinem Hirn, dem man diese zumutet, am liebsten entschuldigen möchte. Drei Beispiele:

Ein Amateurfussballtrainer war mehrfach durch sexistische Sprüche aufgefallen. Nun ist seit längerem bekannt, dass Funktionärsposten in Fußballverbänden nicht die allerhellsten Lichter anziehen. Die Herren Vorstände im Landesverband des besagten Trainers hielten es für angebracht, ihn als Strafe dazu zu verdonnern, mehrere Spiele einer Frauen- oder Mädchenmannschaft zu leiten.
Eine wirklich runde Idee: Ein sexistischer Verbandsvorstand benutzt Frauen- und Mädchenmannschaften als Mittel zum Zweck der Bestrafung, indem er ihnen einen sexistischen Trainer schickt.
Sorry, Hirn.

Die Würzburger Polizei fällt seit Monaten vor allem dadurch auf, dass sie bei Auflageverstößen auf Demonstrationen von Schiefdenkern angestrengt wegguckt. Immer wieder von der Bevölkerung angesprochen erklärt sie regelmäßig entweder, es habe alles seine Richtigkeit gehabt oder, sie könne schließlich nicht überall gleichzeitig sein. Mitgliedern eines Journalistenverbands flatterte diese Woche ein Bußgeldbescheid ins Haus. Sie hätten an einer nicht angemeldeten öffentlichen Versammlung teilgenommen. Die Journalisten hatten sich vor dem Haus eines belarussischen Konsuls getroffen, um diesem eine Petition zu mehr Meinungs- und Pressefreiheit in Weißrussland zu überreichen. Niemand hat sich daran gestört, sie wurden auch von niemandem angezeigt. Aber ein Polizist hatte das Foto von dieser Aktion in der lokalen Presse entdeckt und sofort konstatiert, dass es sich um eine nicht angemeldete und daher verbotene Versammlung handeln müsse. Die Polizei sei wegen dieses Verstoßes „von Amts wegen tätig“ geworden, erläuterte ein Polizeisprecher.
Die ach so überlastete Würzburger Polizei erstattet „von Amts wegen“ Anzeige gegen Journalisten, die Pressefreiheit in Weißrussland einfordern – aufgrund eines Pressefotos.
Das muss erst mal durch, durch die Hirnwindungen.

Für verbreitete Verwunderung und auch berechtigten Unwillen hat der Beschluss der Bundesregierung gesorgt, Flugreisen nach Mallorca ohne jegliche Auflagen freizugeben, weil dort die Inzidenzlage sehr niedrig sei. Massenhaft reisen seitdem deutsche, aber auch Urlauber aus anderen Ländern, eng im Flugzeug zusammengepfercht, auf die Insel. Wie sich Menschen „auf Malle“ im Urlaub benehmen, konnte man ja im letzten Sommer eindrucksvoll beobachten. Da nützen auch die gutgemeinten lokalen Eindämmungsmaßnahmen nichts. Virusmutanten aller Länder, vereinigt euch!
Die lapidare Begründung des Tourismus-Beauftragten der Bundesregierung: „Reisen nach Mallorca sind sicher.“
Sorry, Hirn!

Duo Coronale

Statt effektiver Pandemiebekämpfung erlebt man in Deutschland ein immer grotesker werdendes Gewurstel immer panischer werdender MinisterpräsidentInnen, die sich auf Meetings inzwischen nicht mehr nur diplomatisch beharken, sondern sich schon auch mal gegenseitig anblaffen im eher unfeinen Stil.

Zwei Faktoren prägen im Wesentlichen die aktuelle Corona-Politik, die sich systemisch gegenseitig bedingen:

Zum einen die offenkundige Eitelkeit, Selbstüberschätzung und das Wahlkampfgehabe der MinisterpräsidentInnen („Wir in Bayern machen das schon lange“) bei erschreckender intellektueller Mittelmäßigkeit und den entsprechenden Ergebnissen ihrer Beratungen: Bei Gewurstel kommt halt eine sehr undurchsichtige Kochwurst heraus mit erwartbar extrem kurzer Haltbarkeitsdauer. In Talkshows oder bei Interviews blasen sich die „Landesfürsten“ einmal kräftig auf, um dann so lange, bis ihnen die Luft wegbleibt, konsequent an den Fragen vorbeizureden („antworten“ kann man das ja nicht nennen).

Zum anderen die fast schon verblüffende Ignoranz und Bräsigkeit deutscher Bürokraten: Erst bestellt man aus purem Geiz zu wenig Schutzkleidung und Masken, um sich anschließend dieselben extrem überteuert von korrupten Abgeordneten andrehen zu lassen.

Während in fast allen europäischen Ländern der Astrazeneca-Impfstoff schon millionenfach ohne ernsthafte Nebenwirkungen verimpft war, verschreckt die Stiko (ständige Impfkommission) die Menschen zunächst mit einer Nichtzulassung dieses Impfstoffs für Ältere, um dann zu erklären, dass man sich „in zehn Tagen“ erneut mit der Frage beschäftigen werde. Frühestens Mitte März werde man sich mit dem Impfstoff von Johnson & Johnson „befassen“. Bis dahin dürften die Engländer, die alle vier im Westen entwickelten Impfstoffe einsetzen, wohl bei 30% Geimpftenrate angekommen sein, während man in Deutschland vielleicht den „Sprung“ von 6 auf 7 Prozent schafft.

Extrem zögerlich wagt man sich auch an die Idee, die Arztpraxen in den Impfprozess einzubeziehen, von einer Vorbereitung auf diesen Schritt ist nichts zu sehen. Inzwischen sickerte durch, dass vor allem die Stiko bremst wegen der Befürchtung, in den Hausarztpraxen könnte ihre Priorisierungsliste nicht strikt eingehalten werden. Und auch wenn Hausärzte natürlich ihre Patienten besser kennen als die Stiko und wissen, bei wem eine Impfung dringend ist, sieht die Stiko ihre Priorisierungliste in Marmor, Stein und Eisen gemeißelt, selbst wenn der etwas jüngere, aber Schwerkranke seine Impfung nicht mehr erlebt, weil er laut Stiko erst geimpft werden darf, wenn alle über 80-jährigen durch sind.

Dass in einem „Amt“ am Wochenende grundsätzlich nicht gearbeitet wird, auch nicht während einer Pandemie, scheint für etliche Gesundheitsämter zu gelten, weswegen seit einem Jahr (!) bei der Verkündung der Inzidenzzahlen immer dazugesagt werden muss, dass die Zahlen am Wochenende und bis fast zur Wochenmitte nicht stimmen, weil übers Wochenende zu wenig Daten übermittelt werden. Und dass Hamburg ebenfalls seit einem Jahr seine Daten erst so spät am Abend meldet, dass das RKI sie nicht mehr einbeziehen kann und Hamburg deswegen immer nur eine 6-Tagesinzidenz statt einer über sieben Tage bestätigt bekommt, ist ja wohl schließlich das gute Recht eines “Stadtstaates“!

So schwierig ist der Gedanke eigentlich nicht, dass man vor dem Beschluss zu Lockerungen seine Testungsstrategie im Griff und auch realsierbar hat. Die Lockerungen hat man beschlossen. Aber weder gibt es die von Spahn zum 1.3. angekündigten Schnelltests für alle, noch die von Merkel zum 8.3. in Aussicht gestellten. Und die in ihrer Handhabung ohne Aufsicht wohl eher gefährliche Sicherheitsvorstellungen hervorrufenden Selbsttests werden bei Aldi und Lidl verramscht, Schulen und Kitas, wo man sie kontrolliert anwenden könnete, bekommen so nichts.

Es sagt viel aus, dass ausgerechnet ein uralter Witz das Regierungshandeln exakt verbildlichen kann:

Große Aufregung im Hühnerstall: „Das Veterinäramt kommt! Jedem von uns, der drei Beine hat, soll das dritte Bein abgehackt werden!“ – „Aber wir haben doch alle nur zwei Beine, da kann uns doch gar nichts passieren!“ – „Glaubst du! Aber die hacken erst und zählen dann!“

Und jetzt sollen ausgerechnet der Pannen-Jens und der bescheuerte Maut-Andi das Test-Problem lösen, ein echtes Duo Coronale!

Da kann man gleich Kardinal Woelcke zum Kinderschutzbeauftragten ernennen oder Dorothee Bär zur Ministerin für Digitalisierung.

Intensivzyniker

Jahrelang hat sich das Nachrichtenmagazin der SPIEGEL einen etwas boulevardesken Ruf zugezogen, weil es Politikern penetrant unterstellte, sie würden ihre Entscheidungen nicht von Sacherwägungen abhängig machen sondern von deren Auswirkungen bezüglich ihrer Wahlchancen. Das Verhalten der Länderministerpräsidenten zeigt: Sie treffen ihre Entscheidungen ganz offensichtlich nicht aus Sacherwägungen, sondern wegen erwarteter Verbesserung der Wahlchancen.

Ein paar Beispiele:

Obersachse Kretschmer hat die erste Welle der Pandemie (im unseligen Gleichklang mit der AfD) so lange geleugnet, bis sein Land zum bundesdeutschen Corona-Hotspot Nummer 1 wurde. Auch wenn dort demnächst keine Wahlen anstehen: Es dürften nicht zuletzt die in Sachsen immer noch steigenden Umfragewerte der AfD sein, die ihn plötzlich zum Chefbremser werden lassen, der jetzt schon weiß, dass kein Osterurlaub möglich sein wird.

Karnevalist Laschet will zwar keine Landtagswahlen gewinnen, aber Kanzlerkandidat der Union werden. Laschet, der sein Bundesland, offenbar vertrauend auf die heilende Kraft des rheinischen Frohsinns und des Katholizismus, zum ebenfalls beängstigenden Hotspot hat verkommen lassen, zog, solange er die Unterstützung des Merkel-Flügels der Union bei der Vorsitzenden-Wahl brauchte, die Maßnahmen energisch an, allerdings mit der dümmsten Bemerkung von allen: „Wenn die Fallzahlen hochgehen, muss man anziehen. Wenn sie runtergehen, muss man lockern.“ Als wäre die Pandemie eine Modelleisenbahn, bei der man beliebig den Trafo hoch- oder runterdrehen könnte. Jetzt hält er es für angebracht, im vermeintlichen Streit um die Kanzlerkandidatur deutlich Position gegen Söder zu beziehen, fordert weitgehende Lockerungen und vergleicht Söders eher strengeren Kurs mit der „Bevormundung von Kleinkindern“.

Mister Breitbein Bayern selbst hat in den Umfragewerten gehörig Federn lassen müssen. Und natürlich weiß er, dass das penetrante Gerede von Lockerungen Erwartungen weckt, die zu enttäuschen auf die Politik zurückfallen würden. Prompt stellt er sich hin, warnt vor zu weitreichenden Lockerungen und geht in Bayern mit seinen Lockerungen gleichzeitig deutlich über den Ministerpräsidenten-Beschluss hinaus, indem er nicht nur Schulen, sondern auch Gärtnereien, Nagelstudios (!) und Baumärkte öffnen lässt. Das muss man erst mal hinkriegen.
Zwei Dinge muss man ihm allerdings zugutehalten: Zum einen wird eine der albernsten Schließungsmaßnahmen abgemildert: Während Baumärkte und Gärtnereien geschlossen bleiben mussten, schaltete der angebliche Lebensmitteldiscounter „Norma“ letzte Woche in der Tagespresse ganzseitige Anzeigen, in denen nur Blumen, Gartengeräte bis hin zum Benzinrasenmäher sowie Bekleidung angeboten wurde – und kein einziges Lebensmittel! So viel auch zum angeblich so verantwortungsbewussten Verhalten des Handels, Herr Handelsverbandspräsident Sanktjohanser! Zum zweiten konnte Söder damit seinen Gastwirtschaftsminister Aiwanger ausbremsen, der aus tiefer Sorge um das nicht ausgetrunkene Bier gleich alle Gaststätten und vor allem Brauereigaststätten sofort öffnen möchte.

Den bisherigen Gipfel an Erbärmlichkeit bot allerdings Meck-Pomm-Ministerpräsidentin Schwesig. So lange das Virus die Menschen in ihrem dünn besiedelten Land noch nicht gefunden und deswegen auch nicht angesteckt hatte, verweigerte sie sich so gut wie allen Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz. Das kam gut an im Land. Dann begannen die Fallzahlen zu steigen und sie versuchte als einzige Ministerpräsidentin und gegen alle Beschlüsse durch eine innerdeutsche Tourismusgrenze (Betretungsverbot von Meckpomm durch landesfremde Subjekte) die immer noch günstigen Werte niedrig zu halten. Dann knickte sie ein, vor allem vor der Tourismus-Lobby und öffnete recht schnell und großzügig wieder mit der Folge, dass Meckpomm zu einem der infiziertesten Länder wurde. Daraufhin stellte sie sich tatsächlich in bemerkenswerter Schamlosigkeit vor die Fernsehkameras, forderte bundesweit (!) strengere Maßnahmen und erklärte, sie sei schon immer eine heftige Vertreterin bundeseinheitlicher Regeln gewesen. Sich für landeseigene Lockerungen und Schutzmaßnahmen feiern zu lassen, bei der Notwendigkeit von schärferen Maßnahmen sich aber hinter bundesweiten Beschlüssen verstecken zu wollen: Wenn sie doch da wenigstens einmal rot geworden wäre! Landtagswahl im September 2021.

Zu den ganz großen Lockerungsbefürworterinnen gehört Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz (Landtagswahl am 14. März). Sie und viele andere Lockerungsbefürworter erklären, man könne nicht immer nur von Lockdown zu Lockdown gehen, müsste regionale Unterschiede mehr berücksichtigen und die Situation auf den Intensivstationen der Krankenhäuser.

Bloß: Es hat doch gar keinen Lockdown gegeben! Geschäfte des Alltagsbedarfs waren offen, es wurde überall gearbeitet, im öffentlichen Nahverkehr durfte man sich aneinanderkuscheln. Und falls gegen Auflagen verstoßen wurde, hat die Polizei meist geflissentlich auf die andere Seite gesehen. Die Politik hat nie den Mut gefunden, einen notwendigen, wirklichen Lockdown in angemessener Dauer durchzuziehen, um die Infektionen wirklich in Griff zu bekommen. Leider hat man diese Chance durch das allseitige Lockerungsgerede jetzt wohl endgültig vertan.

Was regionale Differenzierungen anrichten können, hat man gesehen, als in Deutschland große Teile des Einzelhandels schließen mussten, Tschechien als vermeintlicher Sieger über das Virus alles wieder aufgemacht hat. Massenhaft sind Bayern, Thüringer und Sachsen zum Einkaufsbummel nach Tschechien gefahren – die Infektionszahlen in diesen drei Ländern stiegen rapide an. Diese Grenze kann man natürlich schließen. Aber man kann kaum die Gänstorbrücke zwischen dem württembergischen Ulm und dem bayerischen Neu-Ulm (exakt 96 Meter lang) sperren um zu verhindern, dass ab Montag die württemberger Ulmer die bayerischen Neu-Ulmer Baumärkte stürmen.

Geradezu zynisch wirkt der ständig wiederholte Verweis auf freie Intensivbetten. Kann sich Pandemie-Bekämpfung wirklich daran orientieren, dass es noch freie Betten gibt, in denen ein Großteil der Menschen nach qualvollem Kampf schließlich stirbt? Man veranstaltet tatsächlich Gedenkfeiern für die Corona-Toten, will aber lockern, bis sich die Intensivbetten wieder ordentlich gefüllt haben? Wer diese Krankenhausabteilungen kennt, wünscht selbst dem übelsten Lockerungsfanatiker nicht, sie jemals nutzen zu müssen.

Mit Scheuklappenblick nimmt jeder Interessensverband nur seine eigene Klientel in Blick. Kinder“schutz“verbände fordern die vollständige Öffnung von Schulen und Kitas, weil inzwischen 30% der Kinder statt 20% vor der Epidemie Ängste und Unsicherheit verspürten. Natürlich sind Kinder in der Epidemie nicht glücklicher als sonst und verspüren Ängste genauso wie Erwachsene. Aber darf man ihnen deswegen eine Normalität vorlügen, die es nicht gibt?

Jüngst wurde gewarnt, dass wegen geschlossener Schulen unter Kindern die Fettleibigkeit zunähme. Gegen Fettleibigkeit hilft weniger essen, mehr Bewegung – oder eine schwere Lungenkrankheit, die in der Regel mit starker Gewichtsabnahme einhergeht.

Und vielleicht sollte man, statt auf willfährige „Experten“, die für jede Forderung gefällige Gutachten erstellen, auf Fachleute hören, die sich mit Kindern wirklich beschäftigen. Der Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Würzburg gab zu bedenken, was für Kinder wohl schlimmer sei: Die Freunde ein paar Wochen nicht sehen zu können oder Oma und Opa zu verlieren.

 

Mutig, mutig!

Spahn und Merkel zeigen sich offen für den Impfstoff Sputnik V, wurde in den letzten Tagen in den Medien verbreitet.

Corona-Impfstoff aus Russland? Von Putin?? Ganz schön mutig. Wenn Putin, was ihm natürlich ohne Weiteres zuzutrauen ist, für den Deal Bedingungen stellt wie zum Beispiel, dass damit vorrangig Führungspersonal aus Politik, Wirtschaft und Medizin geimpft werden soll, ist besondere Vorsicht geboten. Dann wurde in den Container mit dem Exportimpfstoff vor dem Abfüllen bestimmt eine Stunde lang Nawalnys Unterhose reingehängt.

Wie? Das geht gar nicht? Die Russen haben Nawalnys Unterhose nicht? Richtig. Sie haben Nawalny, wie dieser bitter beklagte, in Omsk seine Kleider nicht wiedergegeben, um Spuren zu vertuschen – außer der Unterhose, die sie, wie „Nawalnys Team“ später erfolgreich analysieren konnte, mit Nowitschok beträufelt haben.

Das ist aber auch zu dämlich!

Westliche Scheinheiligkeit

Am 30.1. tauchte in der online-Ausgabe der tagesschau eine Meldung auf, dass sich ein russischer milliardenschwerer Oligarch mit vollem Namen als Besitzer von „Putins Palast“ geoutet habe. Der gab an, er wolle auf dem Gelände ein Luxushotel errichten, was (auch wenn man sich des Wahrheitsgehalts natürlich nicht sicher sein kann) angesichts der gesamten Anlage deutlich plausibler erscheint als Nawalnys Geschichte vom Privatpalast [1].

Fast alle westlichen Medien haben diese Meldung geflissentlich übersehen, reagiert hat niemand. Passt einfach nicht, selbst die geschätzte taz spricht weiter unverdrossen von „Putins Palast“.

Stattdessen gibt man unreflektiert weiterhin Nawalnys skurrile Aussagen wieder: Auf den Vorwurf des russischen Gerichts, er habe mehrfach gegen seine Bewährungsauflagen (regelmäßige Meldepflicht) verstoßen, antwortet er, er habe sich nicht bei den Behörden melden können, weil er in Deutschland erst im Koma gelegen habe und dann monatelang krank gewesen sei.

Was er in dieser Zeit konnte, nach eigenen und von den westlichen Medien freudig aufgegriffenen Behauptungen:

  1. Er konnte angeblich mit einem Chef des russischen Geheimdienstes eine Stunde lang telefonieren und dem ein umfassendes Generalgeständnis zum angeblichen Mordanschlag abringen.
  2. Er konnte von Deutschland aus das „Enthüllungsvideo“ organisieren und veröffentlichen.

In den berüchtigten russischen Gefängnissen scheint es übrigens ziemlich liberal zuzugehen. Schließlich konnte Nawalny nach eigenen Aussagen „aus seiner Zelle heraus“ die landesweiten Proteste seiner Anhänger koordinieren…

Vehement fordern westliche Regierungen jetzt die sofortige Freilassung Nawalnys, als würde in Deutschland jemand, der immer wieder zu illegalen Demonstrationen und zum Umsturz aufruft, nicht auch festgenommen. Und wer sich (zu Recht!) über die unverhältnismäßige Härte der russischen Sicherheitsbehörden empört, möge sich immerhin auch an den G20-Gipfel in Hamburg erinnern, als man in Zelten aufgestellte Gitterkäfige mit Festgenommenen vollstopfte. Im Sommer letzten Jahres wurde in einem Prozess wegen einer gewalttätigen Demonstration ein Urteil gefällt. Hier die Berichterstattung des NDR:

Der Hauptangeklagte, ein 24-Jähriger aus Frankreich, bekam eine Haftstrafe von drei Jahren. Ein 26-Jähriger aus Hessen erhielt ein Jahr und fünf Monate Haft auf Bewährung, ein 24-jähriger Hesse eine Bewährungsstrafe von einem Jahr und drei Monaten. Die beiden anderen, zwei Männer aus Hessen im Alter von 20 Jahren, müssen wegen Landfriedensbruchs 20 Arbeitseinsätze zu je sechs Stunden ableisten.
Mit ihrem Urteil enttäusche sie sicher beide Seiten, sagte die Vorsitzende Richterin, sowohl den Staatsanwalt, der deutliche höhere Strafen verlangt hatte, als auch die Verteidigung. Die hatte auf Freispruch für die Männer plädiert. Die Angeklagten waren bei dem vermummten Aufzug am Morgen des 7. Juli 2017 dabei, hatten selbst aber keine Steine geworfen oder Autos angezündet.

Der Hauptangeklagte saß übrigens 16 Monate (!) in Untersuchungshaft.

Ein anderer Mann (eine taz-Leserbriefschreiberin hat darauf hingewiesen) ist übrigens seit knapp 11 Jahren de facto in Haft. Sein „Verbrechen“: Er hat amerikanische Staatsgeheimnisse veröffentlicht, die bereits erfolgte und geplante Kriegsverbrechen der USA beinhalteten. Der offizielle Haftgrund: Julian Assange ist in Schweden zwei Mal Frauen gegenüber übergriffig geworden. Die beiden haben ihn aber, wie eine davon jüngst veröffentlichte, NICHT wegen Vergewaltigung angezeigt (das hat der schwedische Staat dann von sich aus gemacht), sondern lediglich bei der schwedischen Polizei nachgefragt, ob man ihn zu einem HIV-Test zwingen könne. Ein Auslieferungsersuchen der USA, wo ihm eine Strafe zwischen 175 Jahren Haft und Tod droht, wurde zwar abgelehnt, nach einem zwischenzeitlichen Asyl in der britischen Botschaft von Ecuador wurde er im April 2019 von der britischen Polizei inhaftiert.

Haftgrund: Assange habe gegen Kautionsauflagen verstoßen, weil er zu einem früheren Gerichtstermin nicht erschienen war (Wikipedia) – während seines Asyls in der Botschaft (Red.)

Assange sitzt immer noch in Haft.

Von einem empörten Aufschrei der westlichen Regierungen, der Forderung nach sofortiger Freilassung und der Androhung von Sanktionen gegenüber Großbritannien hat man noch nichts gehört.

[1] https://www.tagesschau.de/ausland/asien/putin-palast-nawalny-oligarch-101.html

Klobürsten-Populismus

Kaum ist man den größten Lügenbold des Westens los, scheint ein anderer auszutesten, wieviele Fake-News man der Öffentlichkeit auftischen kann, ohne für verrückt erklärt zu werden.

Der selbsternannte Putin-Vernichter Nawalny hat wieder mal zugeschlagen, mit einer wiederum höchst abenteuerlichen und vor Widersprüchen nur so strotzenden Geschichte: „Ein Palast für Putin“ nennt er sein „Enthüllungsvideo“, das er und „sein Team“ nach eigenen Worten „beschlossen“ hatten, als er noch auf der Intensivstation in Deutschland lag. (Per Zoom-Konferenz von einer deutschen Intensivstation aus?) In dem Video wird ein riesiger Palast gezeigt, den sich Putin angeblich aus Schmiergeldern finanziert habe.

Eines vorweg: Dass es in Russland breitflächig Korruption gibt, ist kaum anzuzweifeln, wenn man sich ansieht, wie viele Multimillionäre nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion in kürzester Zeit aus dem System, das angeblich Eigentum an Produktionsmitteln verboten hat, entstanden sind. Ein Herr Chodorkowsky z.B., der unter Staatschef Jelzin noch Minister für Energie war, war ein paar Jahre später Besitzer eines Energiekonzerns und eines zweistelligen Milliardenbetrags (in Euro gerechnet, versteht sich). Solche sog. Oligarchen aus den früheren Reihen der KPdSU (auch Chodorkowsky war dort Funktionär) entstanden im Rahmen der Privatisierung der Wirtschaft unter Jelzin und auch noch Gorbatschow reihenweise. Dass die sich Paläste bauen und überall auf der Welt mit unglaublichem Protz auftreten, ist ja kaum zu übersehen.

Der ehemalige Kommunist und spätere Multimilliardär Chodorkowsky war später der wohl heftigste Gegner Putins. In diesem Zusammenhang könnte man ja auch mal die Frage aufwerfen, wer eigentlich das „Team Nawalny“, das doch über beträchtliche Mittel zu verfügen scheint, finanziert.

In dem Film (der teilweise von der ARD-Sendung „Weltspiegel“ ausgestrahlt wurde), wird gezeigt, wie eine knallrote Drohne über den besagten Palast fliegt, angeblich um die gezeigten Aufnahmen zu machen. Während später einer der „Zeugen“ aussagt, es herrsche dort Überflug- und strengstes Fotografierverbot, Drohnen würden sofort abgeschossen, ist es dem Team von Nawalny nicht nur gelungen, eine auffällig rote Drohne unbehelligt über das Gelände fliegen zu lassen, sondern diese dabei auch noch zu filmen. Superman Nawalny foppt Putins Sicherheitskräfte halt zu gerne…

Derselbe Zeuge, der sich als Naturschützer ausgibt, erklärt später, der Palast sei mit Haupteingang und Park vom Meer weg in Richtung Land errichtet worden. Auf der Meerseite sei ein dichter Wald, um ihn „zu verstecken“. Ein paar Sätze weiter zeigt er sich „erschüttert“, dass vor dem Gelände, wo früher unberührte Natur gewesen sei, jetzt ein künstlicher Strand und ein Yachthafen angelegt wurden. So blöd können auch nur Putins Helferhelfer sein: Erst einen Wald zum Verstecken anpflanzen und dann davor einen Yachthafen bauen. Laut desselben „Zeugen“ habe „man schon immer gewusst, wer in den Palast einziehen würde“ (er meint Putin). Die Verifizierung dieser Behauptung lässt allerdings noch auf sich warten.

Dann werden jede Menge Prunkzimmer gezeigt, aber auch ein „Spielzimmer“ mit einer Modelleisenbahn sowie ein kompletter Grundriss der Anlage. Nawalny lässt erklären, dass ein Bauunternehmer ihm die Pläne gegeben hätte und Bauarbeiter und Möbelpacker Fotos von den Räumlichkeiten. Ganz schön mutig für Beschäftigte in einer so geheimen Baustelle, dass sogar der Geheimdienst ein Betretungsverbot durchsetzt… Überprüfen lässt sich die Aussage natürlich nicht. Die vielen gezeigten Zimmer hat das „Team Nawalny“ aus diesen Angaben als „virtuelles Modell“ nachgebaut (!). Erinnert sehr an die Strategie des CIA, mit der man Saddam Hussein den Besitz von ABC-Waffen nachweisen wollte mit angeblichen Fotos von fahrenden Fabriken, die in Wahrheit angemalte Modellautos waren. Wer weiß, wer noch alles zum „Team Nawalny“ gehört…

Um die Verruchtheit des angeblichen Bauherren Putin zu unterstreichen, ist die Rede von einer „als Hügel getarnten unterirdischen Eishockeyhalle“. Da hat das „Team Nawalny“ aber die eigenen Bilder nicht gut angeguckt: Zu sehen ist eine Betonhalle mit begrüntem Dach, eingerahmt von mächtigen, ganz und gar nicht getarnten, ja nicht einmal grün angestrichenen Betonwülsten. Vermutlich die übliche Putin-Schlamperei. Schade trotzdem, dass dem Umweltschützer-Zeugen nicht aufgefallen ist, dass Dachbegrünung eigentlich eine ganz gute Idee ist…

In den unendlich vielen Badezimmern gebe es, so Nawalny, Designer-Klobürsten aus Italien, Stückpreis 700 Euro, weswegen jetzt Tausende von Russen mit Klobürsten in der Hand gegen Putin protestieren, statt sich zu fragen, wo Nawalny diese entscheidende politische Information wieder her hat.

Äußerst bewundernswert ist übrigens die Geduld der russischen Sicherheitsbediensteten: In einer Szene ist zu sehen, wie Nawalny, vermeintlich in einem Ämtergebäude stehend, irgendjemandem in die Videokamera spricht, dass „sie“ (gemeint sind die Polizisten) ihn jetzt vermutlich in die Untersuchungshaft brächten. Anschließend darf er seine Anhänger noch auffordern, weiterzukämpfen und keine Angst zu haben. Ein angeblicher Polizist steht solange daneben und blickt betreten auf den Boden.

Das möchte ich mal in Deutschland erleben: Dass ich in einer deutschen Polizeistation per Video zum Umsturz aufrufen darf und die Polizei steht daneben und wartet geduldig, bis ich fertig bin.

Hierzulande wird gerade heftig vor Verschwörungstheoretikern gewarnt und mit leicht gruseligem Schauer auf Trumps Volksaufhetzung verwiesen. Klobürsten-Populist Nawalny wird dagegen als „Held“ gefeiert und bekommt mit seinen Machwerken, in denen nicht eine einzige Aussage einigermaßen glaubwürdig belegt wird, breiten Raum in erschreckend kritiklosen Medien eingeräumt.

Auf die Frage, wie er diesen Umgang mit Nawalny in Deutschland einschätze, antwortet der kluge Friedrich Küppersbusch in „taz“ vom 25.1.:

„Derzeit genügt es, dass er (Nawalny) gegen Putin und der sehr gegen ihn ist (…). Klar, Putins Regime unterstützt vieles, was den Westen destabilisiert. Und wir so?“

Trotz aller aktuellen Verärgerung über die eigentlich geschätzte und bei anderen Themen eher objektive Sendung „Weltspiegel“ hier der Link zum Nachsehen und -lesen:

https://www.daserste.de/information/politik-weltgeschehen/weltspiegel/sendung/weltspiegel-4254.html

CSU – ganz die alte

Zu Zeiten, in denen die CSU in Bayern regelmäßig satte absolute Mehrheiten einfuhr, entwickelten die Funktionsträger dieser Partei eine selbstgefällige Arroganz, die oft in rein autoritäres Verhalten abglitt. Das CSU-Motto lautete: Wir sind gewählt, also haben wir recht. Ein CSU-Minister macht keine Fehler.

Übriggebliebene Repräsentanten dieser Haltung sind Dobrindt und Scheuer, der seine diversen Desaster bei der „Ausländermaut“ mit fassungslos machender Penetranz verteidigt.

In Bayern schien man eine Zeitlang Hoffnung haben zu dürfen, dass sich die CSU zu einer normalen politischen Partei entwickelt. Ministerpräsident Söder nahm mehrmals (obwohl’s ihm natürlich keiner geglaubt hat) das Wort „Demut“ in den Mund (bevor er bei seinen Pressekonferenzen seine Minister neben sich wie Schulbuben Aufstellung nehmen und meist kaum zu Wort kommen ließ).

Ob es die neuen Umfrageergebnisse sind oder die zu Tage tretende Hilflosigkeit angesichts der Pandemie, die den alten Politikertypus bei der CSU und den mitregierenden Freien Wählern, die ja immer noch ein bisschen bayerischer sein wollen als die CSU, wieder hervortreten lassen, ist unklar.

Zwei Beispiele: Trotz längst bekannter Schwächen setzt Schulminister Piazolo weiter auf die hauseigene Lernplattform „Mebis“, verspricht sie zu ertüchtigen und lässt sich allerlei Schabernack einfallen, um sie nutzbar erscheinen zu lassen. Als sich Klagen und Kritik häufen, erklärt er lapidar, die Schulen müssten Mebis ja nicht nutzen, schließlich gäbe es auch andere Plattformen.

Dass sich die Ex-Gesundheitsministerin Huml gegen Kritik und Häme zu wehren verstünde, nachdem sie für den Impfstofftransport im großen Stil Camping-Kühlboxen anschaffen ließ, traute man ihr offensichtlich nicht zu. Schnell wurde sie ausgewechselt gegen einen Mann, der nach Angaben von Parteifreunden ein „Macher“ sei – eine Bezeichnung für einen CSU-Politiker zum Gänsehautkriegen. Prompt ging der neue Macher in die Offensive.

Obwohl einer der weltweit führenden Hersteller von geeigneten Kühlboxen in Bayern produziert, seine Boxen in alle Welt verkauft und dem Gesundheitsministerium zertifizierte Medikamenten-Boxen günstiger als die Camping-Kühler anbot,

obwohl dieser Hersteller deutlich vor dem Einsatz der Huml-Boxen warnt und, nachdem aus vermutlich sehr CSU-spezifischen Gründen die bayerische Regierung bei ihm nicht einkaufen will, sogar das geeignete Produkt eines direkten Konkurrenten empfiehlt,

obwohl der Hersteller der Huml-Boxen selbst erklärt, die bestellten Geräte seien nicht für den Transport von Medikamenten gedacht (weil eher für das Feierabendbier), und er dem Ministerium aus seiner Firma geeignete Boxen angeboten habe, die Huml aber nicht wollte,

obwohl beim Transport mit diesen Boxen rund 1000 Impfdosen vernichtet wurden (nicht durch einen Mangel der Boxen, sondern durch eine unsachgemäße Handhabung eines beigelegten Temperaturkontrollgeräts, wie das Ministerium souverän erklärte)

lässt der neue Gesundheitsminister, „Macher“ Holetschek („Hier im Haus bin jetzt ich der Chef“) erklären, dass die Boxen bislang (!) „einwandfrei funktioniert“ hätten, weshalb er – trotz einhelliger Warnungen aller Fachleute! – keinen Anlass sehe, die Boxen auszutauschen. Geradezu kaltschnäuzig ergänzt er, die Kreise und kreisfreien Städte seien ja nicht verpflichtet, diese Ausstattung zu nutzen und könnten nach eigenem Ermessen eigene Beschaffungen (meint: auf eigene Kosten) tätigen.

Also:

Wenn der bayerische Schulminister sagt, Mebis läuft, dann läuft es. Wer anderer Meinung ist, kann sich ja eigene Software kaufen.

Wenn der bayerische Gesundheitsminister Bierkühler für geeignet hält, empfindliche Impfdosen zu transportieren, dann sind die geeignet. Wer andere möchte, möge sich selber welche kaufen.

Übrigens: Ministerpräsident und Schulminister haben noch vor wenigen Monaten erklärt, Schulen seien sicher, die müsste man nicht schließen. Da ist das verräterische „bislang“ von Holetschek ja schon fast ein Eingeständnis.

Umso unverständlicher und geradezu verantwortungslos, dass man aus purer Rechthaberei auf diesen Freizeitkisten beharrt.