War’s das, Werte?

Es ist kaum zu fassen, wie schnell sich manche Menschen angesichts einer Krise von allen Werten zu trennen bereit sind, die man bisher für unverrückbar hielt. Es sind diesmal nicht AfDler und Pegidas, denen fällt zur Krise schlicht nichts ein. Es sind verrückterweise ausgerechnet die Wirtschaftsliberalen, deren Credo vom freien weltweiten Wirtschaften und Profite machen doch eine der Voraussetzungen für die Entstehung einer Pandemie wie der derzeitigen ist. Schneller als das Virus sich verbreiten kann, wird deutlich, was deren Köpfen abgeht, sobald das Geschäft einmal nicht reibungslos wie gewohnt läuft.

Einen besonders üblen Beitrag dazu liefert Christiane Hoffmann im Spiegel 14/2020, der deshalb exemplarisch einer genaueren Analyse unterzogen wird.

Recht unverhohlen wird darin die These vertreten, dass die derzeitigen wirtschaftlichen und sozialen Einschränkungen nicht zu rechtfertigen seien, auch wenn ihre Aufhebung vielen älteren Menschen das Leben kosten würde.

Dass eine Rückkehr zum normalen Leben gerade auch in den vermeintlich starken Generationen eine Katastrophe anrichten würde, ist inzwischen zwar längst bekannt, Hoffmann aber offensichtlich entgangen.

Erstaunlich uninformiert zeigt sie sich auch bezüglich der Verfassungsordnung der BRD. Es sei gerade das Zeichen einer freiheitlichen Demokratie, dass bei notwendigen Entscheidungen alles tabulos gegeneinander abgewogen werden müsse, meint sie, auch z.B. „den wirtschaftlichen Schaden des Lockdowns (…) gegen die Menschenleben, die eine Ausbreitung des Coronavirus kosten würde“.

Offensichtlich interessiert sie nicht, dass man eben nicht alles zur Disposition stellen darf, weil die Verfassung aus gutem Grund bestimmte Werte tabuisiert, z.B. Menschenwürde und das Recht auf Leben. Sonst könnte man ja auch darüber diskutieren, ob nicht die Pressefreiheit abgeschafft und eine Diktatur wie in China eingeführt werden solle, die ja das Überleben der „Starken“ ganz offensichtlich auch garantieren kann.

Reichlich skrupellos plädiert sie für eine Aufhebung der angeordneten Einschränkungen, weil sie andernfalls alle möglichen Katastrophen vermutet (!):

Die „kurzfristige Katastrophe einer Ausbreitung des Virus“ sei hinzunehmen angesichts einer sonst folgenden langfristigen „Rezession und der politischen Verwerfungen, die mit ihr verbunden sein könnten“ (Hervorhebungen vom Verfasser). Zwar gehen die meisten Wirtschaftswissenschaftler inzwischen tatsächlich von einer Rezession aus, aber eben nicht von einer langfristigen. Vielmehr erwarten sie nach dem Ende der Krise aus guten Gründen eine schnelle Erholung der Wirtschaft wie nach der Finanzkrise 2008 (ein knappes Dutzend Jahre danach stand der DAX auf seinem Allzeithoch). Aber angesichts einer erfundenen langfristigen Rezession und daraus hingedachter „politischer Verwerfungen“ soll’s auf ein paar Menschenleben doch nicht ankommen.

Zumal diese „Menschenleben von heute“ ja auch gegen das „soziale Elend von morgen“ abzuwägen seien, da erfahrungsgemäß ein wirtschaftlicher Niedergang die „Bedürftigsten besonders hart treffen“ werde.

Die wirtschaftlich Stärksten, die ganz Reichen in Deutschland, werden auch nach Corona noch rund 2 Billionen Euro in Steuerparadiesen gehortet haben. Dem angekündigten sozialen Elend wäre also durchaus beizukommen. Aber da gibt es ein Tabu, an das offensichtlich niemand, auch nicht die Autorin, rühren möchte. Lautet die hier aufgemachte Alternative nicht eigentlich: Die gesundheitlich Schwachen sollen sterben, damit die wirtschaftlich Stärksten ihren Reichtum behalten können?

Abzuwägen seien die „Menschenleben von heute“ auch „gegen die Belastung der jungen Generation durch Wirtschaftseinbruch und Schulden“. Also nochmal Rezession. Die höchste Staatsverschuldung der BRD gab es zwischen 2010 und 2015. Vermutlich laufen auf Deutschlands Straßen deshalb lauter gebückte, unter der Schuldenlast ächzende Menschen herum.

Und gleich nochmals die Rezession, jetzt europaweit: Das „könnte (…) die Populisten und Autoritären stärken, vielleicht sogar die Demokratie gefährden“. In der Infragestellung der grundlegendsten Werte unserer Verfassung scheint mir da die deutlich größere Gefahr zu liegen.

Die vom Staat erzwungene Durchsetzung der Eindämmungsregeln berge auch „die Gefahr, dass sich das Muster des Flüchtlingsjahres 2015 wiederholt, als (…) eine Welle der Ablehnung folgte, ein regelrechter Hass ‚auf die da oben‘“. Dass 10 bis 15 Prozent der Deutschen sich als rechte Idioten outeten, die sie auch schon vorher waren, wird hier zu einer gesamtgesellschaftlichen Gefahr umgelogen. Die rechtsterroristischen Mordanschläge z.B. von der NSU gab es da schon längst. Die ganz große Mehrheit der Gesellschaft hat die Flüchtlinge mit offenen Armen empfangen, mit einer Welle von Spendenbereitschaft, der behauptete „Hass auf die da oben“ blieb auf die Rechtspopulisten beschränkt.

Von der großen Welle der Spendenbereitschaft der Großunternehmer und sonstiger Superreicher in Deutschland hat man allerdings auch nichts gelesen.

Nein, eine Gefahr für Gesellschaft und Demokratie geht nicht von der Seuchenbekämpfung und einem daraus folgendem wirtschaftlichen Abschwung aus.

Eine solche Gefahr geht von veröffentlichten Meinungen aus, die unsere Verfassungswerte durch ein vulgärdarwinistisches System ersetzen wollen, in dem die Schwachen sterben sollen, damit die Starken sich durchsetzen können.

 

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