Deutschland ist, so sagt es das Grundgesetz in Artikel 20, ein „demokratischer“ (…) Staat. Das besagt zunächst nichts anderes, als dass das Volk über Wahlen seine Herrschaft irgendwie bestimmen darf. Weitere Mitentscheidungs-Verfahren sind möglich, aber nicht zwingend und im Grundgesetz auch kaum vorgesehen. Von daher sind die Menschen mit politischen Entscheidungen kaum befasst, allerdings seit einigen Jahren einem Trommelfeuer von Hetze und Falschinformationen aus den asozialen Print- und Digitalmedien ausgesetzt. Da an den Schulen politische Bildung nach wie vor kaum stattfindet (in Bayern kann man Abitur machen mit insgesamt 3 Wochenstunden Politik in der 13jährigen Schulzeit) und sich angesichts der Hartnäckigkeit, mit der diese Nicht-Bildung beibehalten wird, der Verdacht aufdrängt, dass das ganz absichtsvoll so ist, steht das Wahlvolk beim entsprechenden Termin mit ziemlich leeren Händen bzw. Köpfen vor den Stimmzetteln.
Offensichtlich ist man sich des Problems bewusst, und so wird den ratlosen Bürgern der „Wahlomat“ empfohlen, ein Programm, mit dem man sich angeblich schlau machen kann, welche der Parteien den eigenen Vorstellungen, falls man denn welche hat, am nähesten kommen.
Irgendeine Intelligenz hat dazu 38 zusammenhanglose Einzelfragen formuliert, das Ergebnis entspricht ganz dem unguten Gefühl, das man angesichts dieser Methodik hat:
Nach dem Selbsttest sollte sich der Verfasser dieses Textes ausgerechnet von Volt vertreten fühlen – einer Partei, die er, ihr Programm kennend, sicher nicht wählen wird.
Neben der ohnehin fragwürdigen Methode zeigen sich (ohne Anspruch auf Vollständigkeit) folgende Schwächen:
Die Auswahl der Fragen ist nicht in der Lage, das Konzept einer Partei zu erfassen und orientiert sich sehr an den jetzt im Wahlkampf hervorgehobenen Themen, nicht an den Punkten im Parteiprogramm, die man im Wahlkampf lieber verschweigt. Ein paar Beispiele: Dass die AfD sofort aus der EU und längerfristig aus der NATO aussteigen will, taucht nicht auf. Die einzige Frage zur Bildungspolitik ist, ob dem Bund mehr Kompetenzen in der Schulpolitik eingeräumt werden sollte – als wäre das hier das gravierendste Problem. Beim BaföG wird die Frage gestellt, ob es weiterhin abhängig vom Einkommen der Eltern bezahlt werden soll – dass BaföG-Empfänger weit unter der Armutsgrenze leben, ist kein Thema.
Einige Fragen sind überraschenderweise negativ formuliert, da muss man schon gut aufpassen, um nicht drauf reinzufallen: So heißt es zwar, die „Schuldenbremse … soll beibehalten werden“, aber „Deutschland soll das Ziel verwerfen, klimaneutral zu werden“.
Das größte Problem ist aber die fehlerhafte Auswertung der Eingaben. Das Programm ordnet die Präferenzen des Nutzers Aussagen aus den Wahlprogrammen der verschiedenen Parteien zu. Bei Unklarheiten besteht die verfälschende Tendenz, sie dem Nutzer als Übereinstimmung unterzujubeln. Da schneidet natürlich die Partei am besten ab, deren Programmformulierungen möglichst vage und interpretierbar sind. Drei Beispiele:
Die Aussage, dass das BaföG weiterhin abhängig vom Elterneinkommen bezahlt werden sollte, wurde vom Nutzer verneint – angeblich in Übereinstimmung mit Volt. Dort aber steht: „Volts Lösungen für eine gerechte Bildungsfinanzierung setzen auf ein elternunabhängiges BAföG, das durch eine reformierte Bemessungsgrundlage weiterhin gezielt diejenigen unterstützt, die finanzielle Förderung am dringendsten benötigen“.
Volt schafft es, auf die Frage gleichzeitig mit ja und nein zu antworten – der Wahlomat wertet es als Übereinstimmung.
Der Nutzer stimmte der Aussage, „In Deutschland soll die 35-Stunden-Woche als gesetzliche Regelarbeitszeit für alle Beschäftigten festgelegt werden“, zu. Überraschenderweise auch hier Übereinstimmung mit Volt:
„Volts Lösung ist die Flexibilisierung der Arbeitszeit, um individuelle Modelle zu ermöglichen und ausschließlich eine Wochenobergrenze beizubehalten. So kann jeder und jede Wochenende machen, wann er oder sie will.”
Wie man hieraus interpretieren will, dass Volt die 35-Stunden-Woche als gesetzliche Regelarbeitszeit festschreiben will, ist mehr als rätselhaft.
„Der gesetzliche Mindestlohn soll spätestens 2026 auf 15 Euro erhöht werden.“ Dieser Forderung stimmte der Ratsuchende voll und ganz zu, angeblich auch Volt:
„Volts Lösung für einen gesetzlichen Mindestlohn, der jederzeit ein bezahlbares Leben ermöglicht, passt sich immer automatisch und dynamisch an die wirtschaftliche Lage an, ohne weitere lange Bundestagsdebatten.”
Meint ja wohl: Der Mindestlohn bemisst sich an der wirtschaftlichen Lage und wird bei Krisen ohne weitere Debatte auch kräftig gesenkt. Übereinstimmung?
Es ist übrigens nicht zufällig, dass die obigen Beispiele alle Volt betreffen. Tatsächlich ergeben (das kann jeder mal nachtesten), weitere Stichproben eine auffällige Häufung solcher Widersprüche gerade bei dieser Partei, die sich sympathisch und weltoffen gibt, ihren neoliberalen Kern (der sich allerdings im Vergleich zu vor drei Jahren deutlich abgemildert zeigt) aber gerne in sehr zweideutigen Formulierungen versteckt.
Eventuell ist das sogar mit ein Grund, dass Volt gerade bei jungen Leuten so gut ankommt: Nachdem sich der Lindner-Boom bei den Jungen vor drei Jahren als grotesker Fehler herausgestellt hat, ahmt Volt jetzt dessen Wahlkampfattitüte (dynamisch, jung, fortschrittlich) gnadenlos nach, wenn auch erheblich weniger oberlehrerhaft (ja, das war sie auch!) und personenzentriert. Und auch wenn sich wieder erfreulich viele junge Menschen für Politik interessieren, mag es doch in dieser Altersgruppe einen deutlich höheren Prozentzsatz als in anderen geben, die schnell mal den Wahlomat durchdaddeln, ihren ersten positiven Eindruck bestätigt finden und ihre Entscheidung festzurren.
Als Ersatz für politische Bildung taugt der Wahlomat nicht, aber auch der Polplotblog nur in bescheidenem Ausmaß. Dennoch wird dieser sich erlauben, noch rechtzeitig eine zwar einseitige, aber gut begründete Wahlempfehlung auszusprechen. Bis dann.