Was die Ukraine braucht

Alle reden nur noch von Israel und es scheint tatsächlich so, als ob man sich an das Leid, das in der Ukraine tagtäglich neu verursacht wird, irgendwie gewöhnt hat. Dabei sitzen die Menschen dort Schutz suchend in den U-Bahnschächten, müssen täglich damit rechnen, dass sie und ihre Wohnungen bombardiert werden. Der Ausfall von Strom und Heizung im bitterkalten Winter wird wegen der gezielten russischen Angriffe auf die entsprechende Infrastruktur ebenfalls Alltag werden.

Und die westlichen Politiker betonen pflichtschuldigst, dass die Unterstützung der Ukraine nicht nachlassen werde, dass die Ukraine alles bekomme, was sie braucht.

Was konkret sie allerdings braucht und wofür, darüber schweigt man sich ziemlich aus.

Für jeden ist ersichtlich, dass das, was die Ukraine zurzeit bekommt, natürlich nicht ausreicht, um die von Russland besetzten Gebiete zurückzugewinnen. Es reicht allenfalls, um mit Mühe und Not weitere Eroberungen Russlands zu verhindern. Ist es das, was die Ukraine „braucht“?

Viele europäische Regierungschefs fordern stärkere Waffensysteme für die Ukraine wie z.B. die Taurus-Systeme und blicken dabei – mangels eigenem Besitz – auf Deutschland. Auch deutsche Oppositionspolitiker, Grüne und FDPler fordern dies und blicken dabei auf den Bundeskanzler. Der aber blickt in die USA.

Was ihm wiederum erstaunlicherweise von Unions-Politikern vorgehalten wird, die doch sonst immer erklären, Deutschlands Wohl und Wehe hinge ausschließlich von der NATO und deren Führungsmacht USA ab. Und damit auch richtig liegen.

Jedenfalls tut der Kanzler nichts ohne Absprache mit den USA, und die sind dagegen, der Ukraine Raketen oder Marschflugkörper mit großer Reichweite zu schicken. Das kann mehrere Gründe haben:

Denkbar ist tatsächlich ein gewisses Maß an Misstrauen der Ukraine gegenüber, die Befürchtung, sie würde solche Waffen trotz gegenteiliger Versprechungen dazu nutzen, Ziele in Russland oder gar direkt in Moskau anzusteuern. Amerikanische Raketen auf Moskau: Da wäre tatsächlich damit zu rechnen, dass Putin die rote Linie übertreten sieht, die er von Anfang an betont hat: eine existenzielle Bedrohung Russlands. Es ist nicht auszuschließen, dass er dann zu weltzerstörenden Maßnahmen greift.

Selbst wenn die Langstreckenwaffen nicht auf Russland gerichtet würden, würde deren Lieferung eine neue Qualität der Beteiligung der NATO an diesem Krieg bedeuten. Und offensichtlich ist man sich auch hier nicht so sicher, wie Putin reagieren würde. Dass er sich in diesem Fall offen mit einem NATO-Land anlegen würde, ist zwar unwahrscheinlich. Aber das Arsenal der Kriegsführung ist groß – und wieder ist nicht auszuschließen, dass eine russische Politik der militärischen Nadelstiche außer Kontrolle geraten und eine Katastrophe auslösen könnte.

Und das zu vermeiden hat offensichtlich höchste Priorität in Washington und auch beim Bundeskanzler. Und dafür sollte man eigentlich dankbar sein. Ein Spiel mit dem Feuer, sprich mit einem zumindest teilweise unzurechnungsfähigen Atomwaffen-Besitzer, wie es manche aus den Reihen der Grünen, der FDP und der Union fordern, wäre geradezu verantwortungslos.

Wenn das alles aber so ist, sind das natürlich sehr trübe Aussichten für die Ukraine: Sie wird den Krieg gegen Russland nicht „gewinnen“ können, so lange die NATO nicht mit ganz massiven Angriffswaffen eingreift (was sie aus den oben genannten Gründen nicht tut). Das erklärt auch, weshalb der Kanzler die Formulierung „Die Ukraine muss den Krieg gewinnen“ im Gegensatz zu anderen deutschen Politikern nicht verwendet. Russland hat nach wie vor so viele Ressourcen, dass es pausenlos Waffen bauen oder kaufen kann und wird so der Ukraine immer überlegen bleiben.

Schon werden Stimmen innerhalb der NATO laut, dass es schon als „Sieg“ gewertet werden könne, wenn man ein weiteres Vordringen Russlands verhindert. Da beschleicht einen doch ein sehr ungutes Gefühl:

Der Westen liefert Waffen, die weitere Geländegewinne Russlands verhindern. Russland stellt – und da ist die autoritäre Regierung logistisch im Vorteil – seine Wirtschaft zu immer größeren Teilen auf Kriegsgerät um, mit dem sie Rückeroberungen der Ukraine stoppen kann. Die Hoffnung, dass in Russland die Stimmung wegen der großen Verluste kippen und sich gegen Putin richten könnte, kann man vergessen: Wird doch dort die Eroberung jeden kleinen Bauerndorfes als großartiger Erfolg der heldenhaften Armee gepriesen – und die Menschen wollen in übergroßer Mehrheit immer noch dran glauben. Eher kippt die Stimmung in der Ukraine, da nicht nur die Waffen für wirkliche Erfolge fehlen, sondern auch (im Gegensatz zu Russland) allmählich die Soldaten.

Hat sich hier nicht längst ein Stellvertreterkrieg auf dem Rücken der ukrainischen UND der russischen Bevölkerung entwickelt?

So lange dieser Krieg läuft, wird Russland kontinuierlich militärisch und wirtschaftlich geschwächt, vielleicht doch auch gesellschaftlich destabilisiert, was den USA natürlich sehr gelegen kommt. Auf der anderen Seite hat Russland großes Interesse daran, dass sich vor allem die europäischen NATO-Länder militärisch verausgaben (was ja offenkundig längst passiert!) und in der Ukraine-Frage zerstreiten (was ja auch längst der Fall ist). Will man das aber wirklich zu einem neuen dreißigjährigen Krieg mit anschließendem „Erschöpfungsfrieden“ (und extrem dezimierter Bevölkerung) werden lassen? Oder wäre es langsam an der Zeit, sich ehrlich zu machen:

Nichts spricht dafür, dass die Ukraine in absehbarer Zeit die von Russland neu annektierten Gebiete oder gar die Krim zurückerobern kann. Es spricht aber längst auch nichts mehr dafür, dass Putin ernsthaft den ursprünglichen Plan, sich die Ukraine vollständig einzuverleiben, weiter verfolgt.

Man kann nun das Abschlachten von Menschen und die Zerstörung von Lebensgrundlagen weiterlaufen lassen und z.B. von deutschen Politikern aus der (immer noch teils mit russischem Öl und Gas geheizten) warmen Stube mit großem moralischen Impetus erklären, ein Angriffskrieg dürfe sich für den Angreifer niemals lohnen, oder mit geringem politischen Sachverstand behaupten, würde Putin nicht aus der Ukraine vertrieben, würde er als nächstes Polen überfallen (wo der doch gerade sieht, dass eine eher halbherzige Unterstützung eines Nicht-Mitgliedsstaats durch die NATO reicht, um seine Pläne zu vereiteln).

Oder man muss in den saueren Apfel beißen und anerkennen, dass in der Weltpolitik das vermeintlich Wahre und Gute eher selten siegt – und sich endlich zu Verhandlungen bereit erklären?

Hilfreich dafür wäre, wenn der Westen nicht weiterhin russisches Gas und Öl und Diamanten kauft, westdeutsche Großunternehmen (KNAUF) nicht weiterhin einen Großteil ihres Gewinns in Russland erwirtschaften (und damit den russischen Staatshaushalt finanzieren) würden, wenn man nicht die für alle möglichen Bankgeschäfte so typische Schleichwege ermöglichen würde usw. So lange Sanktionen gegen Russland dort ihre Grenzen finden, wo die Interessen der deutschen Wirtschaft („unser aller Wohlstand“, wie es in der Aktionärssendung „Wirtschaft vor acht“ in der ARD heißt) beeinträchtigt sein könnten, macht sich der Westen unglaubwürdig (und strategisch auch schwach).

Und den Moralpredigern aus FDP, Grünen und Union darf man deshalb auch die Frage stellen, ob „unser aller Wohlstand“ wirklich ein so schützenswertes Gut ist, dass ihm zuliebe das jahrelange Abschlachten von Menschen ermöglicht bzw. nicht alles getan wird, um das zu beenden.

Vielleicht vertragen sich punktueller fetter Wohlstand und noch fettere Börsengewinne nicht so recht mit der Forderung nach einer friedlichen, guten und gerechten Welt?

German Angst

Ein prägender Wesenszug der Deutschen ist nach Meinung mancher Nichtdeutscher und mancher deutscher Journalisten die „German Angst“, was offensichtlich ein Brite erfunden haben muss. Der anscheinend noch nie in München beim Oktoberfest war.

Sich dort in Zeiten der Pandemie zwischen tausenden eng aufeinander gedrängter Menschen volllaufen zu lassen, zu singen, zu grölen, zu schwitzen zeugt doch von einer regelrechten Angst-Resistenz. Und ist gleichzeitig ein schönes Beispiel dafür, wo Angst ausgeschaltet wird: Genau da, wo, aus welchen Gründen auch immer, der Verstand ausgeschaltet wird. Beim Oktoberfest funktioniert das besonders effektiv: Mit jeder Maß schwindet der Verstand mehr und die Angst auch.

Eine „ruhige Wiesn“ mit im Schnitt polizeilich aufgenommenen 260 Körperverletzungen (an einem Ort in 15 Tagen!) sind die Folge dieses Angstabbaus.

Eine ähnlich berauschende Wirkung wie die Wiesn-Maß scheint der neu entdeckte Heroismus bei zahlreichen Politikern und Journalisten in der Konfrontation mit Russland zu haben. Und da auch hier der Verstand nicht weiterhilft, bestärkt man sich mit einer kreuzdummen, weit verbreiteten Sentenz: Angst sei ein schlechter Ratgeber.

Meistens ist das anders. Angst ist ein offensichtlich überlebenswichtiges Gefühl in der belebten Welt; alle Tierarten, die sich durch Flucht am Leben erhalten, wären ohne sie längst ausgestorben. Und wer an Davids Erfolg gegen Goliath glaubt, muss auch an die unmittelbare Unterstützung Gottes glauben oder an einen gottserbärmlichen Zufall. Am Verstand kann’s jedenfalls nicht gelegen haben.

Bundeskanzler Scholz wird immer wieder gefragt, warum er die Lieferung moderner Kampfpanzer in die Ukraine nicht forciere. Er erklärt ebenso immer wieder, dass er nichts tun werde, was Deutschland oder die NATO in eine direkte Konfrontation mit Russland bringen würde und dass die anderen westlichen Staaten das alle genauso handhaben würden.

Das wird ihm als Angst vorgehalten.

Die Bellizisten aus FDP, Grünen, sogar teils der taz tun im Gegenteil so, als ob Deutschland die Pflicht hätte, diese Panzer zu liefern, auch wenn kein anderer westlicher Staat daran ernsthaft denkt.

Deutschland müsse (!) endlich seine Führungsrolle (!) in Europa einnehmen, es solle endlich seiner Stärke entsprechend (!) auftreten. Seltsame Erinnerungen drängen sich auf: Trumps „Make America great again“ oder die Ambitionen eines ehemaligen deutschen Führers, Deutschland wieder zur Weltmacht hochzurüsten und zu -bomben (was bei den Deutschen damals auch ziemlich gut ankam…).

Unterstützend schwärmt man im ehemaligen „Sturmgeschütz der Demokratie“, dem SPIEGEL, wieder von den Sturmgeschützen des Westens in der Ukraine, von einer „strategischen Meisterleistung“ der Ukraine , von „einer der besten Gegenoffensiven seit dem Zweiten Weltkrieg“, jubelt über die Erfolge der „14. und 92. mechanisierten Brigaden, der 3. und 4. Panzerbrigade“ usw. Endlich darf da jemand wieder seine Begeisterung für Schlachtpläne ausleben und bemüht gar den preußischen General von Clausewitz (dessen Theorien, wie man weiß, Deutschland im Ersten Weltkrieg ja zu grandiosen Erfolgen geführt haben). Alle Zitate tatsächlich nachzulesen in SPIEGEL 38/2022 S. 84ff.

Offensichtlich kehrt die von SPIEGEL-Autor Fichtner beklagte fehlende „Kriegslust“ ziemlich rasant zurück – in einer geradezu besinnungslosen Kriegsverherrlichung. Ein bisschen mehr Verstand – und ein bisschen mehr Angst – wären hier wohl angebrachter.

Wie war das? Selensky hat zwei Tage vor dem Überfall (ja, das hatten wir schon mehrfach, muss aber immer wieder wiederholt werden) keine Anzeichen für eine militärische Aggression gesehen. Das würde Putin nie wagen, war man sich (auch in den Reihen der Waffenlieferungsfans!) absolut sicher.

Er hat es gewagt, obwohl Russland offensichtlich strategisch sehr schlecht vorbereitet war, und rund ein Fünftel der Ukraine besetzt. Nach ein paar Geländegewinnen mit westlicher Militärhilfe träumt man in der Ukraine (und in Teilen der westlichen Welt) gleich davon, die russischen Besatzer aus der Ukraine „rauswerfen“ und alle besetzen Gebiete einschließlich der Krim zurückerobern zu können. Manche halten das unerklärlicherweise tatsächlich für realistisch.

Natürlich weisen die rumpeligen Aktionen Putins (Teilmobilmachung, Referenden) darauf hin, dass Russland tatsächlich in der Defensive ist. Beruhigend ist das nicht.

Mehrfach wurde Putin – zuletzt wieder von Selensky – mit Hitler verglichen. Wenn dieser Vergleich zutreffend ist, wäre es angebracht, sich zu verdeutlichen, wie Hitler mit seiner sich abzeichnenden Niederlage umgegangen ist: Volkssturm, Kampf „bis zum letzten Blutstropfen“ usw. statt Verhandlungsbereitschaft. Rational war das nicht. Und wenn die deutsche Atombombe rechtzeitig fertig geworden wäre, hätte Hitler sie auch eingesetzt.

Putin hat die Atombombe. Aber, da sind sich alle Kriegsbefürworter einschließlich der obersten taz-Strategin Irina Hartwich einig, er wird sie nicht einsetzen. Weil er, so Hartwich, selber Angst davor hat.

Das wäre schon ein erstaunlich rationales Verhalten, das man da dem russischen Führer mit seinen verrückten imperialistischen Weltmachtambitionen aus dem 19. Jahrhundert und angeblichem Hitler-Nachfolger unterstellt.

Aber vermutlich ist es einfach nur die „German Angst“, die solche Überlegungen hervorruft.

Kriegs-, Geld- und Parteihelden

In Russland werden reihenweise Oligarchen umgebracht oder bringen sich, so liest man, selbst um. Sie werden ihre Gründe haben. Schließlich wissen sie, wie sie in der postsowjetischen Zeit ihre Milliarden angehäuft haben.

Derweil drängt die Ukraine heftig in die EU. Die Ukraine ist Opfer eines spätimperialistischen Überfalls durch Russland. Das kann und muss Vieles erklären.

Taugt das aber wirklich als Rechtfertigung, dass der ukrainische Präsident und besonders der ukrainische Botschafter in Deutschland die ganze Welt mit weniger diplomatischen als mit rüpelhaften Worten abkanzeln wie dumme Schulbuben, wenn die Waffenlieferungen nicht so rollen, wie sich die Ukraine das wünscht?

Taugt das wirklich als Rechtfertigung dafür, das ukrainische Fernsehen gleichzuschalten (es gibt nur noch einen Sender unter Aufsicht der Regierung)?

Taugt das wirklich als Rechtfertigung dafür, „russlandfreundliche“ Parteien verbieten zu können (insbesondere die größte Oppositionspartei), und das von EINEM Gericht innerhalb von vier Wochen?

In Deutschland, dem so mittigen Land der EU, in die die Ukraine so dringend möchte, stricken Schulkinder Schals für Ukraine-Basars, jeder Sportverein führt Sammelaktionen durch, da kommen insgesamt doch ein paar hunderttausend Euro zusammen.

Gänzlich unberührt von all dem ist eine soziale Gruppe, die es schafft, auch medial außen vor zu bleiben: Die ukrainischen Oligarchen. Das sind Leute, die, genauso wie die russischen, deren Jachten man jetzt beschlagnahmt, Milliardengeschäfte unmittelbar nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gemacht haben. Die Forbes-Liste führt gut ein Dutzend mit einem persönlichen Vermögen von mehreren Milliarden auf.

Dass diese die Politik der Ukraine seit der Unabhängigkeit von der Sowjetunion maßgeblich bestimmen, mag ja nicht einmal die ukrainische Regierung bestreiten. Entweder im Hintergrund oder direkt an der politischen Front. Ein paar Beispiele:

Ein Herr Juschtschenko, streng antirussisch und von den USA unterstützt, zerstritt sich zunächst mit seiner Ministerpräsidentin Julia Tymoschenkow (Man erinnert sich? Das war die Dame, die mit ihrem blonden Zopfkranz auftrat wie die Unschuld vom Lande, allerdings einen dreistelligen Millionenbetrag mit „Ölgeschäften“ zusammengeklaut hatte). Eingeknastet und angeblich oder wirklich vergiftet (man weiß es ja wirklich nicht) gab sie den ukrainischen Nawalny.

Darauf folgte bei immer dubioseren Wahl-Inszenierung ein von Russland gestützter Herr Janukowytsch, der abgelöst wurde von dem direkten Milliardärsgauner Poroschenko, der seine Milliarden mit Öl, Rüstung und vor allem Schokolade gemacht hat und die Ukrainer hoffen ließ, er würde mit seinem persönlichen Vermögen für ihren Wohlstand sorgen. Der war in den USA sehr gemocht…

Aktuell mag es ja sein, dass Selensky wegen seiner Beliebtheit als Schauspieler und Komödiant gewählt wurde. Ohne gewaltige finanzielle Unterstützung wird das aber auch nicht funktioniert haben.

Wenn in dieser Situation jetzt Populisten wie Ursula von der Leyen oder der polnische Ministerpräsident Morawiecki fordern, man müsste den Aufnahmeprozess der Ukraine in die EU beschleunigen, kann man Olaf Scholz für seine „Zögerlichkeit“, die ihm so rundum vorgeworfen wird, nur danken. Mitglieder, die die EU bei fast jeder Frage praktisch handlungsunfähig machen, hat diese doch schon genug – vor allem im Osten.

Wie hat die kluge Taz-Journalistin Ulrike Hermann so treffend formuliert:

„Die Ukraine hat Anspruch auf Solidarität und Unterstützung, aber nicht auf Verherrlichung!“

Eine besonders üble Form von Parteipopulismus betreibt inzwischen die neue CDU-Hoffnung Merz: Deutschland solle viel schneller schwere Waffen in die Ukraine liefern, auch das verzögere Scholz absichtlich.

Hat Merz in seiner langen politischen Auszeit als Finanzmanager nicht mitgekriegt, dass (schon vor dem Ukraine-Krieg) die Ausrüstung der Bundeswehr – nach eigener Aussage – allenfalls zu 50% einsetzbar war? Der Rest war Schrott oder in der Werkstatt. Nach 16 Jahren CDU-geführtem Verteidigungsministerium. Das lag übrigens nicht daran, dass man, wie oft zu lesen ist, die Bundeswehr in dieser Zeit „kaputtgespart“ hätte – im Gegenteil: Man hat sie doch förmlich mit Geld zugeschüttet, nur hat sie es nicht geschafft, mit diesem Geld Vernünftiges (so man das bei Waffen überhaupt sagen kann) anzuschaffen. Kam ja offensichtlich nicht so drauf an…

Da werden die 100 Milliarden Sonderschulden so wenig daran ändern wie die zwei Nato-Prozent. Man darf sich schon fragen, ob es eine sinnvolle Strategie ist, einem Unternehmen, das es nicht schafft, mehr als die Hälfte seiner sündhaft teueren Ausrüstung in Schuss (blödes Bild!) zu halten, nochmal mengenweise Geld nachzuwerfen.

Merz Forderung müsste man ehrlicherweise so beantworten: Die Bundeswehr hat nichts Funktionierendes zum Hergeben (außer alten DDR-Beständen!).

Ob es besonders verantwortungsvoll ist, Scholz dazu aufzufordern, in dieser Frage öffentlich schnell Klarheit zu schaffen?

 

Gelegentlich sei hier der Hinweis erlaubt, dass es im benachbarten Literaturblog deutlich entspannter zugeht. Ist auch wichtig:

http://www.textbruch.de

Der Informationskrieg

Die Ukraine habe den Informationskrieg gegen Russland gewonnen, ließ ein ukrainisches Regierungsmitglied verlauten (zitiert im Kriegsblog der tagesschau, jetzt nicht mehr auffindbar). Noch nie sei die Meinung der Weltöffentlichkeit über die Ukraine so günstig gewesen wie jetzt.

Das ist wohl richtig. Klar muss man sich darüber sein, dass Informationskrieg vor allem Krieg bedeutet und wenig Information. Die deutschen Medien tragen kräftig dazu bei, indem sie zwar pflichtbewusst immer wieder darauf hinweisen, dass Meldungen aus dem Kriegsgebiet nicht verifiziert werden können, diese aber unverdrossen sehr einseitig aus Sicht der Ukraine. verbreiten Nichts davon darf man glauben. Die wenigen Meldungen, die aus russischer Sicht gebracht werden, natürlich auch nicht.

Es ist völlig korrekt, dass sich der allergrößte Teil der Weltöffentlichkeit gegen Putin und seinen Angriffskrieg wendet. Aber es ist eines Landes mit „westlichen Wertevorstellungen“ unwürdig, sich an diesem Informationskrieg u.a. mit der Veröffentlichung von vermeintlichen Bildern aus dem Kriegsgeschehen zu beteiligen. Spätestens seit die USA im Irakkrieg ein angeblich 8-jähriges vergewaltigtes Mädchen per Video der Weltöffentlichkeit präsentierten, das sich später als bezahlte Schauspielerin herausstellte, sollte man doch wissen, wie im Kriegsfall mit Bildern gearbeitet wird.

Der Tagesschau „faktenfinder“ ist immerhin fair genug, nicht nur russische Fakes nachzuweisen, sondern auch ukrainische. So sei das Bild eines Flugzeugs, das angeblich von der ukrainischen Luftwaffe abgeschossen wurde, nachweislich schon mehrere Jahre alt und stamme vermutlich aus einem Unglück bei einer Flugschau. Das Bild vom ukrainischen Mädchen, das einem russischen Soldaten erklärt, er solle nach Hause gehen, ist ein Screenshot eines Videos aus dem Nahen Osten. Die Foto von zwei Kindern, die angeblich ukrainischen Soldaten salutieren und den Verteidigungswillen der Bevölkerung demonstrieren soll, stammt aus dem Jahr 2016.

Besonders perfide beteiligt sich der SPIEGEL an den Desinformationskampagnen. Gab es noch kurz vor Kriegsbeginn die Aussage eines Augenzeugen, der bei den Verhandlungen 1990 persönlich dabei war, dass das Versprechen, die NATO nicht in Richtung Osten auszudehnen, vom damaligen Außenminister Genscher mehrfach bestätigt wurde, darf jetzt (Ausgabe vom 12.3.) plötzlich ein „deutscher Ex-Diplomat“ erklären, dieses Versprechen habe es nie gegeben, das habe sogar Gorbatschow bestätigt. Innerhalb von zwei Wochen ein unkommentierter Schwenk um 180 Grad als politische „Nachricht“.

In der Ausgabe vom 5.3. wurde zu einem Bericht über die von russischen Bombern zerstörte Infrastruktur um Kiew das berühmte Foto von Flüchtenden gezeigt, die neben einer zerbombten Brücke auf Holzbalken den Fluss Irpin zu überqueren versuchen. In der Ausgabe vorher war noch berichtet worden, dass diese Brücke von der ukrainischen Armee gesprengt wurde, um den Russen den Zugang nach Kiew zu erschweren.

Bei allem Verständnis dafür, dass man diesem Irren, der meint, seine Interessen im 21. Jahrhundert mit Waffengewalt durchsetzen zu können, schaden und ihn natürlich irgendwann am liebsten vor ein Kriegsgericht stellen will: Es hinterlässt ein sehr schales Gefühl, wenn Verfechter der „westlichen Werte“, zu denen auch die Pressefreiheit gehört, die der Verfasser dieses Blogs immer heftig hochgehalten hat, dieses Ziel mit Desinformation der eigenen Bevölkerung verfolgen wollen.

 

Völlig entgleist

Wer mit Waffengewalt einen anderen Staat angreift oder in einen anderen Staat einmarschiert, setzt sich nach heutigem Verständnis in der Regel ins Unrecht, grundsätzlich und unabhängig von den Beweggründen. Darüber herrscht wohl Einigkeit.

Das verbietet nicht, sich über die mehr oder weniger nachvollziehbaren Erklärungen des angreifenden Landes Gedanken zu machen, besonders, da die deutschen Medien sofort nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine auf Kriegspartei umgestellt haben. Die deutschen Fernsehanstalten haben gut einen halben Tag gebraucht um zu kapieren, dass es als solche wenig zweckdienlich ist, jubelnde Russen aus dem Donbass zu zeigen. Blutverschmierte Gesichter, am besten von Frauen oder Kindern in Kiew, sind da der eigenen Positionierung schon dienlicher.

Immerhin gibt es noch einige Journalisten, die zwischendurch darauf hinweisen, dass im Kriegsfall gelogen wird, dass sich die Balken biegen, und zwar von beiden Seiten. Ansonsten übernimmt man gern die ukrainische Propaganda.

Der russische Angriff kam auch für den Betreiber dieses Blogs zugegebenermaßen überraschend. Allzu irrational schien die Überlegung, Putin würde mit seinen Ansprüchen über das Donbass-Gebiet hinausgehen. Und auch zu diesen Ansprüchen wäre eine tiefere diplomatisch-argumentative Vorbereitung zu erwarten gewesen. Eine solche wäre tatsächlich möglich gewesen:

Im Donbass leben überwiegend Russen, die sich nach der Auflösung der Sowjetunion (wo die Ukraine ein Bundesstaat war wie alle anderen) plötzlich in einem ihnen fremden (und durch die Entwicklung innerhalb der Ukraine immer fremder werdenden) Staat befanden. Das ist ungefähr so, als würde ein nach Bayern zugezogener Hamburger sich aus irgendwelchen Gründen plötzlich in Ungarn wiederfinden.

Dass man es mit den Russen in der Ukraine nicht sonderlich gut meint, lässt sich schon belegen: Die Einführung des Ukrainischen als alleinige Amtssprache gleich 1991 (obwohl alle Ukrainer russisch können, aber nicht umgekehrt alle Russen ukrainisch), zeigte schon, wohin die Richtung geht. Harmlos daherkommend war das Gesetz, dass alle russischsprachigen Zeitungen auch eine ukrainische Ausgabe produzieren müssen, faktisch ein Verbot der russisch-sprachigen Presse. Keiner dieser Zeitungsverlage kann sich ökonomisch eine zweite Auflage in Ukrainisch leisten, zumal diese bei der ukrainischen Bevölkerung ohnehin nicht auf Interesse stoßen würde. Von inzwischen in Deutschland lebenden Ukrainern russischer Abstammung höre ich persönlich von weiteren massiven Schikanen der ukrainischen Regierung gegen Russen, die ich aber nicht verifizieren kann.

Dies alles reicht allerdings auf keinen Fall, Putins Gerede vom „Genozid“ im Donbass zu akzeptieren. Das war (immerhin noch) taktisch überlegt, weil ein Genozid im Völkerrecht militärisches Eingreifen erlaubt.

Statt sich auf die tatsächliche Bedrohung durch fortschreitende Einkreisung durch die Nato, auf den massiven Bruch des Versprechens des Westens, die Nato nicht nach Osten auszudehnen zu konzentrieren (Helmut Kohl als einer der obersten Vertreter der „westlichen Werte“ nannte ein Bestehen auf diesem Versprechen, das sowohl vom deutschen wie auch vom amerikanischen Außenminister abgegeben wurde, „naiv“, da es ja nichts Schriftliches gebe), begann Putin plötzlich von einer russischen Volksgemeinschaft, die ihren Anfang in Kiew gehabt hätte (was übrigens richtig ist) zu schwadronieren und (mit diesem „Argument“!) der Ukraine die Staatlichkeit abzusprechen. Als ob sich die Legitimität von Staaten aus irgendwelcher historischen „Blutsverwandtschaft“ ableiten ließe.

Das war der erschreckende  Schritt, der zeigte, dass sich der bisher so gewiefte, clevere Taktiker Putin offensichtlich (warum auch immer) von seinem Verstand zu verabschieden begann. Und nicht mehr begreift, dass er, der jetzt von einer „Entnazifizierung“ der Ukraine schwafelt, damit exakt Nazi-Argumente verwendet.

Seine Beschimpfung der ukrainischen Regierung (die man wirklich nicht mögen muss) als „drogenabhängige Nazibande“ wird ihn sogar im eigenen Land unglaubwürdig erscheinen lassen.

Grob ausgedrückt: Da hat jemand die Kontrolle über sich völlig verloren. Das macht ihn unberechenbar und die Situation so gefährlich.