Unverhältnismäßiges

Geradezu inflationär wird das Wort „unverhältnismäßig“ von Corona-Leugnern oder von Gegnern der Eindämmungsmaßnahmen gebraucht, und gerade dieses Wort, das letztlich seltsam inhaltsleer ist, hilft den oben genannten Gruppen, die Zahl der Corona-Toten in die Höhe zu treiben.

Immer, wenn es verwendet wird, bleibt unklar, wer zu wem ins „Verhältnis“ gesetzt wird: Was ist bei einer (gerade wieder  ziemlich verwässerten) nächtlichen Ausgangssperre eigentlich „unverhältnismäßig“? Die Beschränkung des nächtlichen Ausgangsrechts zur Zahl der dabei zu erwarteten Infizierungen und nachfolgend Kranken oder Toten? Und ab wieviel Toten wäre sie dann noch „verhältnismäßig“?

Warum wäre eigentlich ein Polizeieinsatz gegen die illegale Massendemo in Stuttgart „unverhältnismäßig“ gewesen? Weil so wenige Polizisten gegen so viele Demonstranten? Oder war gar die Demonstration „verhältnismäßig“, weil so viele dabei waren und das offensichtlich gut fanden? Also das Verhältnis zwischen der Zahl der Beteiligten und dem (nicht durchgesetzten) Recht?

Ist es verhältnismäßig, also den „Verhältnissen“ angemessen,  bei einer Sieben-Tage-Inzidenz von 165 laut „Bundesnotbremse“ Präsenzunterricht an den Schulen weiterzuführen, obwohl man weiß, dass die neuen Virusmutanten in großer Zahl von den Schulen in die Familien getragen werden? Zu wem wird das ins Verhältnis gesetzt? Zum Recht der Kinder auf Bildung (das ja wiederum ins Verhältnis zum Recht auf „körperliche Unversehrtheit“, also Gesundheit gesetzt werden müsste)? Zum Recht bzw. der Pflicht der Eltern, weiterhin (oft ungeschützt) ihrer Arbeit in den Betrieben nachzugehen? Oder einfach nur zu den Versprechungen der Politiker, die Schulen als letztes zu schließen?

Ist den Verwendern des Begriffs „Bundesnotbremse“ eigentlich klar, wie unverhältnismäßig hier die eigentliche Bedeutung des Begriffs mit seinem derzeitigen Inhalt ist? Eine Notbremse, vor der man eineinhalb Wochen diskutiert, ob man sie ziehen soll und vielleicht auch noch, wie weit raus, während der Zug ungehindert weiterrast?

Im Gegensatz zu manch anderen Institutionen wie z.B. Landkreistagspräsidenten sind unabhängige Gerichte wohl eine der wichtigsten Errungenschaften eines aufgeklärten Staates. Sie haben die Einhaltung von Recht und Gesetz (auch bei der Gesetzgebung und beim Regierungshandeln) zu kontrollieren und gegebenenfalls auch durchzusetzen. Dabei berufen sie sich auf Rechtsnormen, bei denen es oft durchaus einen gewissen Ermessensspielraum gibt. Wenn allerdings Richter z.B. Versammlungsverbote oder Ausgangssperren als „unverhältnismäßig“ aufheben, obwohl Mediziner und Wissenschaftler hier von einem sehr großen Gefährdungspotential sprechen, berufen sie sich nicht mehr auf Rechtsnormen, sondern maßen sich auf einem fachfremden Gebiet eine höhere Entscheidungsqualifikation an als die Fachwissenschaftler. Dass sie anfangs mit ihren Beschlüssen kräftig danebenlagen, haben sie nach der ersten Welle der Gewaltdemonstrationen immerhin erkannt und bestätigen einschlägige Demonstrationsverbote inzwischen eher regelmäßig. Sind hier die richterlichen Befugnisse vielleicht auch unverhältnismäßig?

Wie immer in letzter Zeit mit Staatsrettungs- Mimik erklärt FDP-Lindner, seine Fraktion „könne“ einer nächtlichen Ausgangseinschränkung nicht zustimmen, weil sie unverhältnismäßig sei. Von einem nachts spazierengehenden geimpften Ehepaar ginge schließlich keine Infektionsgefahr aus. Dass es darum geht, gefährliche nächtliche Alk-Partys zu erschweren, will er anscheinend nicht begreifen.

Vielleicht ist er ja unverhältnismäßig dumm.

Nein, nicht die FDP!

Die FDP habe, so war zu lesen und zu hören, vor dem Bundesverfassungsgericht Klage eingereicht gegen die Zulassung sogenannter „Staatstrojaner“, welche nichts anderes sind als Computerviren, mit denen der Staat Menschen ausspähen kann.

Der Staat habe Sicherheitslücken in Betriebssystemen, die zur Computerkriminalität genutzt werden, aufzuspüren und für deren Beseitigung zu sorgen, nicht, sie selbst zu nutzen, hieß es in der Begründung der Klage.

Gibt es sie also tatsächlich noch, die liberale, die Menschenrechts-FDP? Offensichtlich. Allerdings mit einer ziemlich großen Einschränkung:

Der „Zorn“ habe sie dazu getrieben, noch einmal politisch tätig zu werden, ließen die drei Beschwerdeführer verlauten, sicher auch der Zorn auf die eigene, in Menschenrechtsfragen außerordentlich untätige Partei.

Ihr Durchschnittsalter: exakt 80 Jahre.

Sie seien (von jung nach alt) hier freudig gerühmt als Menschen, wegen denen die FDP vor langer Zeit einmal wählbar war:

Sabine Leutheusser-Schnarrenberger (67)

Gerhart Baum (85)

Burkhard Hirsch (88).

Alle drei richteten während der Pressekonferenz interessante Blicke auf den parlamentarischen Geschäftsführer der FDP, Marco Buschmann (41), als der die Klage als FDP-Projekt zu verkaufen versuchte. Von dem stammt die Idee sicher nicht.

Gar nicht blicken ließ sich der vorsitzende Stoppel-Lindner (39), der, was Freiheit betrifft, ganz andere Vorlieben hat, nämlich „Freie Fahrt für freie Bürger“.

Ihm fällt nämlich nichts Besseres ein, als dem SPIEGEL gegenüber über mehrere Seiten hinweg zu erklären, wie toll er Porsches findet, dass Porschefahren überhaupt das Geilste auf der Welt sei, dass er mit gut 30 Jahren schon seinen vierten Porsche gefahren habe, und dass der Sound von Porsche und überhaupt Porsche…

Das Problem: Die beiden letztgenannten (Durchschnittsalter exakt 40) könnte man wählen, die drei erstgenannten leider nicht.