Fichtners Welt

Er hat wieder mal zugeschlagen, der berüchtigte SPIEGEL-Autor Ullrich Fichtner, mit einem seiner zumindest äußerlich streng strukturierten Acht-Kapitel-Essays. Nach dem Ukraine-Krieg und der Rolle Deutschlands darin geht es diesmal um den Klimawandel (DER SPIEGEL 45/2022, S. 24-32)

Eine kritische Würdigung der Kernaussagen der einzelnen Kapitel:

Kapitel I

Wetterextreme habe es schon immer gegeben, zeigt Fichtner an einem scharfen Kälteeinbruch im 30-jährigen Krieg, in EINER Nacht. Die Obrigkeit, erklärt er, nämlich die betroffenen Erzbistümer, hätten daraufhin „große Hexenjagden“ veranstaltet, bei denen „Hunderte Menschen auf dem Scheiterhaufen starben“. Verblüffend seine Schlussfolgerung. Dies zeige, wie DER MENSCH (als ob die Erzbischöfe „die Menschheit“ wären) „zu allen Zeiten (…) das Wetter interpretiert (…) habe.“
Zwei Aussagen sind schon mal unterschwellig als Prämisse vorangestellt:
1. Wetterkrisen gab es schon immer (Dass ein Kälteeinbruch in einer Nacht so gar nicht zum Vergleich taugt mit der seit über 100 Jahren anhaltenden Erderwärmung, will ihm nicht auffallen).
2. DER Mensch hat auf die schon immer irrational reagiert.

Kapitel II:

Jetzt kommt die Anwendung der Prämissen auf die Gegenwart: „Reiche Leute, Vielflieger, SUV-Fahrerinnen“ usw. würden wegen ihres „Besitzes oder Lebensstils“ angefeindet. Ganz genauso wie die Hexen früher also… Und „wer nicht einstimmt in die Klage, dass die moderne Konsumgesellschaft ein verachtenswerter, tödlicher Irrweg ist, riskiert ( …) einen veritablen Shitstorm.“ Also ein bisschen sowas wie die Hexen auf ihrem Scheiterhaufen.
Damit ist auch klargestellt, was gar kein rationaler Umgang mit dem Klimawandel ist: Konsumverzicht oder wenigstens Konsumeinschränkung: „Zu meinen, der Verzicht auf ein Schinkenbrot würde an der Erderwärmung irgendetwas ändern“ führe nur wieder „in die Gedankenwelt früherer Jahrhunderte, in denen Askese als Weg ins Himmelreich galt.“ So geht das immer weiter, bis zu dem absurdesten aller „Argumente“: „Wer schließlich an der deutschen Debatte verzweifelt, die häufig so klingt (!), als könne Deutschland im Alleingang das 1,5-Grad-Ziel erreichen oder das Weltklima mit seinen Windrädern retten, steht schnell im Abseits“. Ja. Standen die Hexen auch. Zur Bekräftigung wird ein Klimaforscher (Hans von Storch) so zitiert: „Die Deutschen können allein die Welt nicht retten.“
Ich frage die Herren Fichtner und von Storch: Mit welchen Menschen unterhalten Sie sich? Ausschließlich mit volltrunkenen und unzurechnungsfähigen? Von wem konkret haben Sie jemals die Aussage gehört, Deutschland könne ALLEIN das Weltklima oder gar die Welt retten? Oder ist das nicht einfach eine Erfindung? Was für ein erbärmliches Argumentationsniveau: Einen Popanz aufbauen, auf den man dann genüsslich einschlagen kann.
Immerhin leugnet Fichtner nicht, dass das 1,5-Grad-Ziel schon lange nicht mehr erreichbar ist. Findet er aber nicht weiter schlimm: „Denn wie geht es dann weiter? Wer wird – und mit welchen Worten – vor allem den jungen Leuten erklären, dass davon die Welt trotzdem nicht untergeht?“

Kapitel III

Hier wird glaubhaft belegt, dass das 1,5-Grad-Ziel unerreichbar geworden ist und dass auch Deutschland gegen seine eigenen Klimaschutzgesetze verstößt. Aber zweifelt daran eigentlich noch jemand? Erschwerend kommt für Fichnter hinzu, dass wegen des Ukrainekriegs „auch noch Braunkohlekraftwerke wieder ans Netz gehen und weil die Atomkraft für die amtierende Regierung nicht als Brückentechnologie für ein paar Jahre infrage“ kommt.
Dabei gilt – vor allem für die Grünen in der Regierung – die Logik von Arbeitszeugnissen: ‚Hat sich bemüht‘ heißt: hat’s nicht geschafft.“
Herzlichen Glückwunsch! Auch noch völlig aus der Luft gegriffenen Dreck auf die Grünen geschmissen. Das durfte nicht fehlen.

Kapitel IV

erzählt, dass man trotz der radikaleren Protestgruppen „Begriffe wie ‚Öko-Diktatur‘ oder ‚grüne RAF‘ (…) als Geraune abtun“ könnte. Echt jetzt? Aber mitnichten: Denn diese Aktionen ließen die „Demokratien dieser Welt (…) wie impotente Gurkenstaaten“ aussehen. Und da diese sich als unfähig zur Problemlösung erwiesen, gerate man ganz schnell in die „Sphäre, in der das Legale oder Illegale eben scheißegal wird“. Also doch grüne RAF.
Die von ihm behauptete Wirkungslosigkeit der Aktivisten der „Letzten Generation“ erkläre sich laut Fichtner „vor allem aus dem Umstand, dass sie vermutlich die ersten Revolutionäre der Weltgeschichte sind, die offene Türen einrennen“. Schließlich sei das Problem weltweit bewusst und „prominent und konstant auf allen Kanälen in Schrift, Bild und Ton verbreitet“.
Das haben die Mädels und Jungs von der Letzten Generation offensichtlich noch gar nicht gemerkt. Oder Fichtner nicht, dass die ihre Aktionen gar nicht als Beitrag zum WISSEN um die Problematik ansehen, sondern als drastische Aufforderung zum HANDELN – über permanente mediale Präsenz hinaus.
Das Kapitel stellt am Ende die großen Fragen, was angesichts des weltweit bekannten Problems zu tun ist. Auf Antworten darf man sich freuen in

Kapitel V

Dort bekommt man aber zunächst ausgeführt, was, wie schon in Kapitel I angedeutet, NICHT zu tun ist:
Es bringe gar nichts, wenn sich „jeder Einzelne nur ordentlich Mühe gebe“. Und „ob die Deutschen weiter nach Mallorca fliegen oder nicht, tut für die Bilanz im Großen und Ganzen nicht viel zur Sache“.
Wie praktisch. Dann kann man ja fröhlich einfach weitermachen wie bisher. Und das ganz ohne schlechtes Gewissen, denn: „Selbst wenn es ganz Deutschland gelänge, seinen gesamten Kohlendioxidausstoß (…) über Nacht auf null herunterzufahren, hätte das auf die (…) Weltbilanz keinen entscheidenden Effekt“. Der Rest der Welt bliese ja weiterhin bis zu 40 Milliarden Tonnen Kohlendioxid jährlich in die Luft.

Nimm das, Popanz (auch wenn es noch so absurd ist)!

Obacht: Jetzt kommt die Lösung (vom oben erwähnten Hans von Storch, von Fichtner zustimmend referiert): Die wohlhabenden Länder könnten „die Entwicklung und Produktion emissionsarmer Technologien (…) beschleunigen und diese dann weniger entwickelten Ländern (…) überlassen.“  „Emmissionsfreie Schiffsantriebe, klimaneutrale Stahlschmelzen, solche Sachen“, meint von Storch, „das könnten wir entwickeln, testen, produzieren – und dann verschenken wir das in den Rest der Welt“. WIR verschenken das dann in den REST DER WELT. Was für eine gruselige Termiologie.
Wie bereitwillig die Industrienationen sind, Hochtechnologie an arme Länder „zu verschenken“, kann man tagtäglich beobachten. Und wann käme der rettende Effekt? In 30, 40 Jahren? Ein paar Seiten zuvor in derselben Ausgabe des SPIEGEL wird berichtet, dass die Bevölkerung Somalias wegen des Klimawandels vom Aussterben bedroht ist. Ein somalischer Aktivist fragt sich angesichts möglicher Technologiehilfen aus den Industrienationen: „Was nützen mir Solarpaneele auf dem Dach, wenn mein Haus weggeflogen ist?“. Genau so viel wie „emmissonsfreie Schiffsantriebe“ in 40 Jahren den jetzt Verhungernden helfen werden.

Kapitel VI

ruft in Erinnerung, dass es schon viele Weltuntergangs-Ankündigungen gegeben habe, aber noch nie einer eingetreten sei und dass jede Generation „ihre Untergangsfantasie“ habe. Diesmal könne es aber tatsächlich ernst werden. Deshalb werden in

Kapitel VII

weitere Lösungsansätze zitiert: „Zukunftsanwälte“ sollten in allen Staaten mit am Kabinettstisch sitzen, Unternehmen sollten „1,5% ihres Gewinns für effizientes Spenden einsetzen“ (nur nicht übertreiben!) usw. In der Zukunft. Andere Wissenschaftler befürchten angesichts solcher Vorschläge natürlich, dass Lösungen nicht „rechtzeitig“ entstünden. Aber: „Andererseits lasse sich ‚die Gewissheit des Untergangs‘ nicht feststellen“. Wie beruhigend.

Kapitel VIII

beinhaltet Fichtners zusammenfassende Sicht auf das Problem: Die Welt werde trotz des Verfehlens des 1,5-Grad-Ziels nicht untergehen (Wer hat das eigentlich behauptet?). Die Menschheit müsse sich auf allerdings auf „Stürme, Hitze, Hagel, Dürre“ gefasst machen. Es sei denn, es kommen „technologische Sprünge“ (Lindner lässt grüßen!), die „die Probleme auf unerwartete Weisen beherrschbar machen.“
Eine Katastrophe ist das alles für ihn nicht, ungemütlich halt. Und die Schuldigen hat er schnell und mühelos ausgemacht: die G7-Staaten mit ihrer „Unfähigkeit (…) ihre zugesagten Beiträge zur Erreichung des 1,5-Grad-Ziels zu leisten“.
Nur: Wie sollen die das auch, wenn in jedem Staat vorgerechnet wird wie hier, dass selbst ein Nullausstoß von Kohlendioxid nichts bringt? Und solange die alten weißen  Männer immer nur Vorschläge haben, die ihnen ein gemütliches „Weiter so“ erlauben, statt persönlich Verantwortung zu übernehmen?

Abschließende Anmerkung: Es darf schon verwundern, dass Fichtner Deutschland nahezu jede Fähigkeit abspricht, einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung des Klimawandels zu leisten. Im Ukraine-Krieg sah er vor ein paar Wochen Deutschland als Welt- und Führungsmacht, die die entscheidende Wende vorantreiben könnte. Darüber nachzudenken, wieviel Kohlendioxid-Ausstoß die von ihm dort befürwortete massenhafte Produktion von Kampfpanzern für die Ukraine verursachen würde, hält Fichtner für unnötig. Denn auf die paar Millionen Tonnen kommt’s sicher eh nicht an.