Die Sommerlüge 1

Sehr groß soll also in der westlichen Welt die Überraschung sein, dass die Taliban so schnell die Macht in Kabul einnehmen konnten. Das sei überhaupt nicht vorhersehbar gewesen, behauptet der deutsche Außenminister – neben einer ganzen Reihe weiterer merkwürdiger Auslassungen.

Und zornig ist man: Dass Präsidentendarsteller Ghani, der schon bei seinem Inthronisierungs-Kuhhandel gezeigt hat, dass ihm die Demokratie am Wertesten vorbeigeht, es vorgezogen hat, abzuhauen, statt sich von den Taliban aufknüpfen zu lassen.
Und dass die doch so toll und mühsam vom Westen ausgebildete und technisch absolut hochgerüstete afghanische Armee quasi schlagartig vor einer zahlenmäßig wie technisch grotesk unterlegenen Taliban-Minderheit, die zum Teil noch mit aus Amerika gelieferten Waffen aus der sowjetischen Besatzungszeit kämpft, kapituliert, wo doch schon öfter deutlich wurde, dass so manch „Ausgebildeter“ lieber seinen Ausbilder erschossen hätte als einen Taliban.
Und dass die Afghanen offensichtlich grundsätzlich nicht bereit sind, die mühsam in ihr Land hineingebombten „westlichen Werte“ zu verteidigen, sondern sich allemal eher zu ihren autoritären moslemischen Nachbarn im Süden, Westen und Norden hingezogen fühlen? Hat man allen Ernstes daran geglaubt, sie würden ihr Leben aufs Spiel setzen für eine Marionetten-Regierung und Pseudo-Wahlen in seit Jahrhunderten von Clans beherrschten Bergtälern?

Aber die Mädchenschulen, die Gleichberechtigung der Frauen und überhaupt die Menschenrechte? Das muss denen doch gefallen haben?
Abgesehen davon, dass es außerhalb von Kabul und ein paar von den Westmächten besetzten Städten damit eh nicht weit her war: Wie wichtig sind diese Werte denn tatsächlich den westlichen Staaten, wenn man sie von heute auf morgen den Taliban vor die Füße schmeißt – bloß weil man beschlossen hat, dass sich der Krieg in Afghanistan nicht mehr lohnt?

Ging es vielleicht gar nicht um diese Werte? Und auch nicht um den angeblich von Afghanistan geförderten Terrorismus? Sondern vielmehr darum, nach dem Rückzug der Sowjetunion 1989 einen westlichen Staat direkt an der Südflanke der damaligen Sowjetunion zu etablieren? Das lohnt nach deren Zusammenbruch natürlich nicht mehr so recht, sind da inzwischen doch zu Russland so ärgerliche Staaten wie Usbekistan oder Kasachstan dazwischen. Das ist arg mühsam.

Das geht anderswo, in der Ukraine, schon viel einfacher.

Am 14. Juli 2019 wurde in diesem Blog wörtlich geschrieben:

„Man kann doch nicht im Ernst erwarten, dass durch den von außen herbeigeführten gewaltsamen Sturz von Regierungen Demokratien entstünden – in Ländern, in denen demokratische Strukturen keinerlei Tradition haben.“

Die große Überraschung kann man gar nicht glauben. Denn wenn sie stimmen sollte, tritt der eher unwahrscheinliche Fall ein, dass der Verfasser dieses Blogs klüger ist als alle westlichen Geheimdienste und Regierungen zusammen.

Die Wahrheit ist vermutlich: Es war ihnen wurscht.