Fähigkeit zu Selbstkritik oder gar zu Schamgefühl gehört nicht zu den Stärken von Jens Spahn. So findet er es völlig in Ordnung, dass er für zig Milliarden Euro Masken zu viel eingekauft hat und dass dabei seine ParteifreundInnen und Geschäftsfreunde Provisionen im hohen zweistelligen Millionenwert eingestrichen haben. So einen Charakter kann man wohl auch nicht integer nennen.
Was er bei der gescheiterten Wahl zu den Bundesverfassungsrichtern getrieben hat, lässt sich aber weder mit Schludrigkeit noch mit einem miesen Charakter erklären.
Zunächst also eine kurze Darstellung der Regelungen bei der Richterwahl:
Die Kandidaten zur Wahl von Bundesverfassungsrichtern werden von den verschiedenen politischen Parteien vorgeschlagen. Das ist vernünftig, denn dadurch wird ein gewisser Proporz politischer Meinungen bei den Richtern erreicht. Allerdings sind die weiteren Regelungen so, dass sie den Verfassungsrichtern vollständige Unabhängigkeit von Parteien, Interessen- und Wählergruppen garantieren: Die Wahl auf 12 Jahre und das Verbot einer Wiederwahl danach soll es den Richtern ermöglichen, es in ihren Urteilen nicht jedermann „recht“ machen zu wollen, sondern zu entscheiden, was ihrer Meinung nach „richtig“ ist. Es ist also durchaus gewünscht, dass in den beiden Senaten des Bundesverfassungsgerichts konträre Positionen gegeneinander abgewogen werden. Dies wird auch deutlich durch die Möglichkeit der Abgabe eines Minderheitenvotums, da es bei dem Streit um die richtige Verfassungsauslegung (und nichts anderes macht das Bundesverfassungsgericht in Streitfragen) durchaus unterschiedliche Meinungen geben kann.
Ein wunderbares Beispiel, wie diese Unabhängigkeit genutzt werden kann, war der ehemalige Verfassungsrichter Roman Herzog. Von der CSU nominiert, ließ er einige von der CSU initiierte Gesetzesvorhaben wegen verfassungsrechtlicher Bedenken krachend scheitern.
Wenn nun eine von der SPD nominierte und vom Richterwahlausschuss (mit den Stimmen der Union) aufgestellte Kandidatin durch ein finanzstarkes Netzwerk aus christlich-fundamentalistischen und rechtsextremen Gruppierungen, die keinerlei demokratische Legitimation besitzen, verhindert werden soll, nur weil sie teilweise linksliberale Meinungen vertritt (in der Frage des Abtreibungsrechts übrigens mit der Zustimmung einer überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung), liegt der eigentliche Skandal darin, dass die CDU/CSU-Fraktion sich auf dieses antidemokratische Verfahren einlässt und ihr Vorsitzender Spahn sogar noch erklärt, man habe die „inhaltlich fundierten Bedenken“ gegen die Kandidatin unterschätzt – obwohl diese sich längst als rein ideologische Erfindungen herausgestellt haben. Soll man ihm wirklich glauben, dass er, ein Parlamentarier mit jahrzehntelanger Erfahrung, nicht gemerkt hat, dass die geradezu verleumderischen Vorwürfe gegen die SPD-Kandidatin Brosius-Gersdorf bei vielen Mitgliedern seiner Fraktion auf allzu offene Ohren stießen? Oder waren nicht doch seine eigenen Ohren die offensten von allen? Schließlich pflegt er laut taz eine recht gute Beziehung zur Vorsitzenden von Alfa, einer der fundamentalistischen Anti-Abtreibungsorgansiationen, die sich dessen auch erfreut rühmt. Seine Sympathie nach ganz rechts hat er ja mehrfach deutlich zum Ausdruck gebracht, zum Beispiel mit der Forderung, die AfD „wie jede andere Partei“ zu behandeln, was ja schließlich nichts anderes heißt, als diese rechtsextreme Partei auch als potentiellen Koalitionspartner zu sehen.
Natürlich jubelt die AfD am lautesten über die geplatzte Richterwahl, spielt sie ihr doch in zweifacher Hinsicht direkt in die Hände: Die Regierungskoalition ist erheblich beschädigt, aber auch das Bundesverfassungsgericht, das plötzlich im Ruf steht, dass sich dort „kommunistische Menschenhasser“ und „Moralgegner“ tummeln würden und dem so unterschwellig schon mal die Legitimation für ein eventuelles Verbot der AfD genommen werden soll.
Jens Spahn wurde vom Vorsitzenden der CDU, Bundeskanzler Merz, zum Fraktionsvorsitzenden und damit zum mächtigsten Parlamentarier der CDU gemacht. Es steht zu befürchten, dass er damit als Kalb (sehr schiefes Bild) seinen eigenen Metzger (weniger schiefes Bild) gewählt hat, der sich offensichtlich einen Regierungswechsel mit sich selbst als Kanzler und der AfD als Koalitionspartner ziemlich gut (und bald) vorstellen kann.