Dystopie

Als Dystopie bezeichnet man ein literarisches Werk, das einen in welche Richtung auch immer negativ entgleisten Staat schildert. Für Nichtleser gibt es das Modell zurzeit auch live.

„Die Menschen haben die Schnauze voll“ ist eine häufig zu hörende Aussage von Verbandsvertretern, die auf eine geradezu unfassbare Art und Weise nach Lockerungen schreien – trotz extrem steigender Inzidenzzahlen. Selbst wenn der Satz so, wie er gemeint ist, wahr wäre, ist er reichlich hirnrissig: Wenn die Menschen tatsächlich „die Schnauze voll“ hätten von der Virusbekämpfung, hilft ihnen sicher nicht, dem Virus neue Möglichkeiten zur exponentiellen Verbreitung aufzumachen. Denn dann haben allerdings (man verzeihe das schiefe Bild) ganz schnell immer mehr Menschen die Schnauze und andere Organe voll – vom Sars- Corona-2-Virus. Davon abgesehen ist dieser Satz, als „Argument“ für weitere Lockerungen vorgebracht, eine bewusste Lüge: Eine steigend wachsende Mehrheit der Bevölkerung spricht sich inzwischen – im Einklang mit Medizinern und Wissenschaftlern – für eine deutliche Verschärfung der Eindämmungsmaßnahmen aus. Das ist überall nachzulesen. Kein Lobbyist oder Politiker kann behaupten, er wüsste das nicht.

Die Schnauze haben diese Menschen voll vom ewigen Hin und Her an Beschränkungen und irrsinnigen Öffnungen, das zu einer sich rapide verschärfenden Dauerkrise führt und dem massiven Druck fast aller (die wenigen Ausnahmen seien gerühmt) Wirtschaftslobbyisten geschuldet ist.

Deren Verhalten lässt übrigens nur zwei mögliche Schlüsse zu: Wenn sie tatsächlich nicht sehen, dass sie mit ihren Lockerungsforderungen dem eigenen Geschäft richtig nachhaltig schaden, weil die Krise sich über weitere Monate hinziehen wird und ihnen sowohl Mitarbeiter als auch massenhaft Kunden coronabedingt ausfallen werden, dann sind sie zu blöde für ihren eigenen Kapitalismus.

Will man ihnen das nicht unterstellen, bleibt nur, dass sie der Hoffnung sind, dass nach der Katastrophe für den Handel schon noch genügend Kunden und für das produzierende Gewerbe noch genügend vom „Faktor Arbeit“ übriggeblieben ist, um das Geschäft weiterzuführen.

Es sei hier erlaubt, auf das Marxsche Basis-Überbau-Modell hinzuweisen, das grob gesagt festhält, dass im gesellschaftlichen Überbau (Recht, Religion, Politik etc.) immer eine passende Ideologie für die materielle Basis, also die wirtschaftliche Situation, gebastelt wird.

Ist es nicht erstaunlich, dass plötzlich von vielen Seiten (bei Schäuble und Palmer angefangen, über Repräsentanten der Kirchen und der Ethik) eine Debatte über die angebliche Verdrängung des Todes in unserer Gesellschaft aufgemacht wird? Dass ein Schäuble eine Verfassungsinterpretation auftischt, nach der das Leben nicht unbedingt das höchste Verfassungsgut sei und der Tübinger Oberbürgermeister die Frage stellt, warum man die Alten behandeln sollte, die doch ohnehin bald sterben würden? Ziemlich knallhart wird hier der barocke „memento-mori“-Gedanke aufgetischt, der schon damals keinen anderen Zweck hatte als den, die Menschen an das massenhafte Sterben zu gewöhnen.

Dass sich die Menschen weniger mit dem Tod beschäftigen würden als früher, ist eine ziemlich vage Vermutung. In den gewinnorientierten Medien wird das Thema nur aufgegriffen, wenn sich aus Sensationsgier mehr Konsumenten generieren lassen. Und die Rolle der Kirchen in der öffentlichen Debatte ist nun mal deutlich geringer geworden als früher – wenn man hier auch Morgenluft wittert und in Predigten die „seelische Gesundheit“ in der Vordergrund stellt.

Der massive Druck der Wirtschaft, die immer unverhohlener z.B. vom Wirtschaftsminister fordert, er habe in Berlin durchzusetzen, dass sie weiterhin unbehelligt und ertragreich ihre Geschäfte führen könnte, führt aktuell zum politischen Suizid. Die Bundeskanzlerin ist ob des bornierten Verhaltens der Ministerpräsidenten abgetaucht; diese beschäftigen sich schon jetzt mit Überlegungen, wie sie eine bundesweite Regelung einerseits fordern, dann aber schnellstmöglich aushebeln könnten. Selbst Landräte verwahren sich inzwischen dagegen, „aus Berlin“ „politische Vorschriften“ zu bekommen  und wollen in einer grotesken Überspitzung der deutschen Kleinstaaterei des 19. Jahrhunderts ihre Gesetze selbst machen.

Es ist neben der körperlichen ganz offensichtlich die geistige Gesundheit, die dieses Virus angreift.

Zum Ministerpräsidenten der Woche ist der Sachse Michael Kretschmer zu küren. Der erklärte heute, man müsse einen neuen „gesellschaftlichen Konsens“ bei der Pandemiebekämpfung finden, und der könne nicht in den Inzidenzzahlen liegen, sondern in der Belastbarkeit des Gesundheitssystems.

Die allernächste Zukunft wird Herrn Kretschmer, der offensichtlich seit Wochen in geistiger Quarantäne lebt, zeigen, wie diese beiden Faktoren zusammenhängen. Sein neu erfundener „gesellschaftlicher Konsens“ wird sich dann in langen Staus von Krankenwagen vor den Kliniken in Dresden und Leipzig manifestieren.

Und man wird ihn nicht zur Rechenschaft ziehen können, ebenso wenig wie alle diejenigen, die entgegen der dringlichsten Warnungen von Medizinern und Wissenschaftlern Tausende von vorzeitig Verstorbenen wissentlich oder zumindest fahrlässig hinnehmen.

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