Gelesen: Irene Dische: Schwarz und Weiß

„Jo hier!“,

so mischt sich die Erzählerin zwischendurch in die Handlung ein, um mal einiges zurechtzurücken oder notwendige Hintergrundinformationen zu liefern. Zu Beginn des Romans stellt sie sich ausführlich vor, aber bis der Leser begreift, welche Rolle die Erzählerin selbst im Roman spielt, dauert es bis zum letzten Drittel dieses famosen Romans.

Man darf jetzt wegen des Titels „Schwarz und Weiß“ und weil der Roman überwiegend in Amerika spielt, nicht erwarten, dass hier ethnische Konflikte abgehandelt werden. In dieser Beziehung wird allenfalls aufs Fröhlichste mit Klischees gespielt.

Die männliche Hauptfigur ist ein Schwarzer mit ganz auffällig blauen Augen, der ununterbrochen in irgendwen verliebt ist. Lange Zeit in die weibliche Hauptfigur, die die Karikatur eines verwöhnten und verzogenen weißen Models ist und deren Eskapaden sich der blauäugige Schwarze nur leisten kann, weil er als Weinsommelier außergewöhnlich erfolgreich ist und sogar eine eigene Fernsehsendung bekommt.

Sie hingegen wird natürlich älter und schließlich wirtschaftlich erfolgreich als Vermarkterin einer dubiosen Privatkirche.

Dann gibt es eine junge Generation (schwarz und weiß), die höchst komplizierten Vater- und Mutterschaftsverhältnissen entspringt und deren Wurzeln bis in ein Königshaus aus Namibia reichen. Und in eine Berliner Weltkriegsruine, weshalb Jo eigentlich auch Lotte heißt.

Da wird kein Zufall und kein Vorurteil ausgelassen, da wird kühn dahinfabuliert, und was rauskommt, ist ein riesengroßer Spaß.

Gelesen: Arundhati Roy: Das Ministerium des äußersten Glücks

Zweite Romane haben’s schwer. Ihnen geht’s wie zweiten Kindern in einer Familie, wenn das erste so richtig toll gelungen ist. Man stellt unheimlich hohe Erwartungen an sie, verlangt, dass sie mindestens so gut werden wie der Vorläufer, am besten ähnlich, aber noch besser.

So leiden die zweiten Kinder am ungeheueren Anspruch und am übergroßen Vorbild. Dem zweiten Roman geht’s kaum anders (nur dass er nicht leiden kann): Die Erwartungshaltung des Lesers ist riesig, nicht nur, was die Qualität betrifft. Man möchte doch auch Vieles, was beim ersten Roman so gut gefallen hat, wiederfinden.

Und so werden ordentliche und vernünftige zweite Kinder genauso schlecht und falsch beurteilt wie gute zweite Romane.

Wer Arundhati Roys ersten Roman „Der Gott der kleinen Dinge“ zum Maßstab nimmt, wird enttäuscht sein: Die Wucht der sprachlichen Bilder trifft einen wesentlich seltener, die teils überwältigende Empathie, die man zwangsläufig mit den Figuren aus „Der Gott der kleinen Dinge“ empfand, ahnt man zwar beim Lesen des „Ministeriums des äußersten Glücks“ wieder, aber sie wiederholt sich eben nicht.

Die bereits oben erwähnte Rezensentin des SPIEGEL hat insofern Recht, als sich die politischen Verhältnisse in Indien und in Kaschmir doch etwas in den Vordergrund drängen. Seitenweise Pamphlete der Kommunistischen Partei von Kaschmir ermüden schon. Meist sind die politischen Erläuterungen aber hilfreich, notwendig – und auch lehrreich. Und ehe man sich’s versieht, entwickelt man doch wieder viel Verständnis und Sympathie für die kuriose, bunte Gesellschaft, die sich da am Rande dieser, auf einem Friedhof, eine wenigstens erträgliche Existenz zusammenbastelt.

Als erster Roman wäre „Das Ministerium des äußersten Glücks“ ein ganz ausgezeichneter…

Gelesen: Lea-Lina Oppermann: Was wir dachten, was wir taten

Natürlich darf man die Erwartungen an eine so junge Autorin, wie es Lea-Lina Oppermann ist, nicht allzu hoch schrauben. Dass sich dennoch eine gewisse Enttäuschung einstellt, liegt an den Superlativen, mit denen das Buch von Verlag und (teilweise) Rezensenten überschüttet wurde. Diesen kann der Text (natürlich) nicht gerecht werden.

Sicher, die großspurig als „Roman“ betitelte Erzählung ist sauber konstruiert und in einer erfreulich ansprechenden Sprache geschrieben (was heutzutage ja tatsächlich rühmende Heraushebung verlangt). Dass Oppermann ihre Motive aus der Lebenswelt der Jugendlichen wählt und auch in erster Linie damit auf Jugendliche abzielt – im Gegensatz zu kaum älteren Autorinnen, die meinen, die ganz großen Weltprobleme abschließend aufarbeiten zu können – sei auch gelobt.

Allerdings versucht auch sie sich an einem (zu) großen Thema:

Eine maskierte Person (wenig einfallsreich immer nur als „Unbekannter“ bezeichnet) dringt mit einer Pistole bewaffnet in ein Klassenzimmer ein und zwingt die Jugendlichen zu demütigenden Handlungen, die sie in zehn (ein paar weniger hätte ermüdende Längen vermieden) niedergeschriebenen Aufgaben festgelegt hat. Es stellt sich heraus, dass der „Unbekannte“ eine Sie ist, und zwar eine ehemalige, von der Klasse gemobbte Mitschülerin. Als einzige hat sie die charakterlichen und moralischen Schwächen aller ihrer Mitschüler durchschaut und stellt diese jetzt bloß.

So weit, so unglaubwürdig.

Die in der Klasse beliebten und von den Mädchen angehimmelten Mitschüler erweisen sich als feige und unmoralisch, die unbeliebten als wahre Helden.

So weit, so unglaubwürdig.

Die zurechtgeschminkten coolen Mädchen sind natürlich alles doofe Oberzicken, die schüchternen „Mauerblümchen“ echte Charaktere.

So weit, so unglaubwürdig.

Der Lehrer, der eigentlich seinen Beruf und seine Schüler hasst, aber den „Was-bin-ich-für-ein-cooler-Typ“ spielt, erweist sich als Angsthase und Versager.

So weit, so unglaubwürdig.

Das Ganze wird in einem seitenlangen Anklagebrief, den die inzwischen Bekannte hinterlässt, bevor sie sich erschießt, noch einmal wiederholt. Und natürlich wird darin deutlich, dass auch ihre Eltern ganz ganz arg versagt haben, diese Versager.

So weit, so überflüssig.

Gelesen: Irvin D. Yalom: Das Spinoza-Problem

Schön, wenn einem ein Buchtitel verrät, womit man es zu tun bekommt bei der Lektüre. Wer einfach oder auch gut unterhalten werden will, liegt bei einem Buch wie „Das Spinoza-Problem“ von Irvin D. Yalom, auf Deutsch erschienen 2012 bei btb, also ziemlich falsch. Was auf dem Titel steht, ist auch drin.

Das „Spinoza-Problem“ in diesem Roman ist ein doppeltes:

Zum einen das Problem, das die traditionelle jüdische Religion mit ihrem recht bald exkommunizierten Glaubensbruder und – und vor allem: aber auch – Vorvater der Aufklärung, „Bento“ Spinoza hat, der, so viel sei an Vorwegnahme erlaubt, jedes Phänomen auf rationale Ursachen zurückführen will und somit Irrationales wie Jenseitsglaube und Rituale ablehnt und als Ziel einer „Einheitsreligion“ das zufriedene Leben mit und in der Natur propagiert.

Zum anderen das Problem, das ein dümmlicher Jungnazi am Anfang des 20. Jahrhunderts mit der Vorstellung hat, dass Goethe, einer seiner deutschen Nationalheiligen, ein Verehrer des Juden Spinoza war. Es handelt sich um Alfred Rosenberg, den späteren Chefideologen der NSDAP, der sich gerne als Philosoph gesehen hat, in Wahrheit aber eine Mut-Blut-Boden-Führer-Religion etablieren wollte.

Beider Leben wird parallel erzählt, teils sehr konkret auf historischen Quellen basierend, teils, z.B durch frei erfundene Figuren, in manchmal auch wirklich anrührende Erzählform gebracht.

Dennoch: Von diesem Buch hat nur der etwas, der bereit ist, sich auf die philosophisch-politisch-ideologischen Auseinandersetzungen einzulassen. Anders als bei Gaarders „Sophies Welt“, an das man sich gelegentlich erinnert fühlt, bei dem allerdings die spannende Rahmenhandlung die philosophischen Inhalte doch oft erschlägt, gibt die Rahmenhandlung in „Das Spinoza-Problem“ tatsächlich nur einen, nicht einmal besonders kunstvollen, Rahmen.

Mehr braucht es aber auch gar nicht und mehr will der auch nicht sein.

Gelesen: Katja Lange-Müller

Katja Lange-Müller hat 2007 einen Roman veröffentlicht, der ist eine Wucht: „Böse Schafe“ sollte man gelesen haben, es ist eindringlich, melancholisch, berührend und vor allem auch in der Anlage schlüssig.

Wie immer, wenn man einen Autor oder eine Autorin für sich entdeckt zu haben glaubt, stürzt man sich auf weitere Werke – und gelegentlich dabei auch ab.

Bei „Drehtür“, dem „Roman“ von 2016, wird wohl so mancher Leser immer dringlicher nach der Möglichkeit suchen, aus ebendieser herauszustürzen, wenn man drei, vier Durchgänge – hier: drei, vier eigentlich in sich abgeschlossene Prosa-Episoden – durchlaufen hat. Irgendwann will man nur noch raus und braucht frische Luft.

So ganz fremd ist einem Leser natürlich die Erfahrung nicht, dass nach einem ganz guten Roman ein weiterer Roman folgt, bloß dann halt kein ganz guter. Dafür mag es unterschiedliche Gründe geben: Druck des Verlages, Neues herausgeben zu wollen, vielleicht auch nachlassende Selbstkritik des Autors angesichts des Erfolges. Aber nach rund 10 Jahren sollte man schon mehr erwarten dürfen als eine mühsam zusammengeklebte Ansammlung von Texten mit, ja, mit dem Aufregungspotential einer Drehtür.

Ein lohnender Versuch ist oft, sich in den früheren Werken des Autors/der Autorin umzusehen. Bei Müller-Lange erkennt man immerhin sehr schnell, dass sie fast ausschließlich Kurzprosa schreibt. Findet sich da Lohnenderes?

Um es gleich vorwegzunehmen: Dieser Versuch, nämlich „Die Enten, die Frauen und die Wahrheit“ wird auf lange Zeit mein letzter zu dieser Autorin gewesen sein.

Vielleicht gibt es Menschen, die das Interesse der Erzählerin am Alltag eines Erdferkels teilen, vielleicht sogar deren Enttäuschung, dass der selbstgewählte „Kumpel und Freund“ Erdferkel diese Rolle nicht annehmen und würdigen mag. Aus Desinteresse, das mich mit diesem Erdferkel geradezu verbündet.

Vermutlich gibt es auch Menschen, die hinter diesen Geschichtchen jede Menge Tiersymbolik wähnen.

Schluss allerdings ist spätestens bei dieser Sequenz: „Das Erdferkel haust (…) im Nachttiertrakt des Zoologischen Gartens. (Ich möchte mal wissen, was an einem Zoo logisch sein soll und was Garten.)“

Wenn ich Pennälerwitzchen lesen will, kaufe ich mir eine Schülerzeitung.

Vorfreude: Arundhati Roy

Arundhati Roy hat ihren zweiten Roman geschrieben. Lange hat’s gedauert – ziemlich genau 20 Jahre nach „Der Gott der kleinen Dinge“. In der Zwischenzeit war sie aktiv als kompromisslose Menschenrechts- und Umweltaktivistin. Wenn sie gefragt wurde, wann denn endlich ihr zweiter Roman käme, hat sie geantwortet, sie tue immer das, was gerade wichtig wäre, und ein zweiter Roman gehöre im Augenblick nicht dazu.

Jetzt inzwischen doch. Auf Deutsch erscheinen wird „Das Ministerium des äußersten Glücks“ am 10. August. Man darf sich ganz ungemein darauf freuen.

Laura Höflinger vom SPIEGEL hat das Buch vorab gelesen. Sie findet es gut, aber – in einer verwunderlichen Gleichsetzung mit ihrer Kritik an Roys politischen Aktivitäten – arg einseitig und übertrieben. Das adelt Arundhati Roy: Hat doch schon Tucholsky vermutet, dass seine Tante den „Faust“ „übertrieben“ gefunden hätte, hätte sie ihn denn gelesen.

Meine Vermutung: Wenn man Roys neuen Roman gelesen hat, wird man klüger sein, erfahrener sein, nachdenklicher sein. Was ein richtig gutes Buch halt mit einem machen kann.

Das ist eine Vermutung, weil ich den Roman noch nicht gelesen habe.

Für alle diejenigen, die „Der Gott der kleinen Dinge“ jetzt lesen werden, ist es ein Versprechen.