Gelesen: Eva Menasse, Dunkelblum

Eva Menasse lebt zwar seit längerem in Berlin, ist aber gebürtige Wienerin und hat sprachlich nichts vergessen. Nicht nur, dass sie leidenschaftlich Austriazismen verwendet (für die es immerhin ein Glossar gibt), auch der insgesamt dem österreichischen Alltagsdeutsch angenäherte Stil und die oft derben dialektalen wörtlichen Reden (da „safteln“ schon mal Leichen im „Holzpyjama“) machen das Lesen für einen „Piefke“ nicht einfach. Doch gerade diese Sprache verleiht dem Roman die gewünschte Aura zwischen „Schmäh“ und Gruseligkeit.

Dunkelblum ist eine österreichische Kleinstadt, fast eher ein Dorf an der ungarischen Grenze. Angesichts der eindringlichen Milieuzeichnungen hätte der Ort dieses symbolisch überlasteten Namens eigentlich nicht bedurft.

Man lebt in Dunkelblum in überwiegend kleinbürgerlicher Spießigkeit, trinkt den selbst produzierten Wein und beäugt alles Neue und Fremde außerordentlich misstrauisch. Schnell wird klar, dass dieser Argwohn Fremden gegenüber auch mit der Angst verbunden ist, Fremde könnten sich für die Geschichte Dunkelblums interessieren – die sich die Dunkelblumer gegenseitig beharrlich verschweigen.

Mit der Grenzöffnung 1989 endet die Abgeschiedenheit des Örtchens im Niemandsland; alte, durch den eisernen Vorhang getrennte Beziehungen werden wieder möglich und rufen Erinnerungen hervor. Eine neugierige studierende Tochter eines alteingesessenen Winzers, der sich mit modernen Weinbautechniken unbeliebt macht, möchte mehr über die Familiengeschichte ihrer Männerbekanntschaften erfahren; einer der vielen Juden, die „damals ihren Koffer aus der Stadt tragen mussten“, kehrt zurück und wird eher gegen seinen Willen in die einsamen Versuche eines der überlebenden Juden, jetzt Inhaber eines Reisebüros, verwickelt, eine Ortschronik zu schreiben. Der große, längst von Gestrüpp überwucherte Judenfriedhof weckt plötzlich das Interesse von Studenten und Studentinnen aus der Hauptstadt.

Und so wird sich erinnert, wie der Besitz, vor allem die Ländereien der ausgewiesenen Juden, noch ehe sie den Ort verlassen hatten, schon dem Eigentum der Dunkelblumer zugeschlagen wurde; wie sich Intellektuelle die Gewaltbereitschaft ungebildeter Jugendlicher zunutze machten,  um einen durchaus einträglichen Herrschaftsterror (ganz im Sinne  der Partei) in dem Städtchen zu errichten.

Als der kurz vor der Pensionierung stehende Landarzt, der durch seine über 30-jährige Hausarzt-Praxis Dunkelblum kennt wie kaum ein anderer, erfährt, dass auf einem Gelände, auf dem jüngst ein Skelett gefunden wurde, die Fundamente für einen Wasserspeicher in die Erde gelegt werden sollen, erbleicht er.

Natürlich ist Dunkelblum ein symbolischer Ort, es gibt tausende Dunkelblums, erst recht in Deutschland. Orte, in denen über die Vergangenheit geschwiegen wurde und wird. Orte, in denen man genauso schweigend hinnahm, dass ortsbekannte Nazigrößen später als Bürgermeister und Lehrer reüssierten. Orte, die große Judensiedlungen und –friedhöfe besaßen, in denen nach dem Krieg aber kein einziger Jude mehr lebte. Dafür wenige Bauern mit erstaunlich großem Landbesitz, die dann im Kirchenvorstand und dem Gemeinderat saßen, um (zusammen mit dem Herrn Bürgermeister und dem Herrn Pfarrer) über die Vergangenheit zu schweigen.

Empfohlen nicht nur für Menschen, die sich erinnern wollen, sondern gerade auch für jüngere, die hier einen tiefen und authentischen Einblick in diesen Teil der deutschen Geschichte erleben können.

Gelesen: Hey, hey, hey, TAXI!

von Saša Stanišić (Text) und Katja Spitzer (Illustration)

Ja. Ein Kinderbuch. Angeblich. Zum Vorgelesenwerden von Mama oder Papa. 28 kurze, assoziativ-fantasievolle Geschichten für Kinder zwischen 5 und 100.

Alle beginnen damit, dass die Vorleserin/der Vorleser in ein Taxi steigt, das sehr viele verschiedene Formen und auch unterschiedliche Materie annehmen kann und an ganz unwahrscheinliche Orte fährt oder an wahrscheinliche Orte mit ganz unwahrscheinlichen Geschichten. Jeder Ausflug endet mit der Rückkehr zum vorgelesen bekommenen Kind.

Das Buch ist so umwerfend, dass man sich nur darüber streiten kann, wer mehr Vergnügen an ihm hat, das vorgelesen bekommene Kind oder der/die Vorlesenden.

Wenn z.B. bei der Fahrt ins Mittelalter die „Mittelalterleute“ erstaunt um das Taxi herumstehen und vom historisch wie pädagogisch sehr einfühlsamen Fahrgast erklärt bekommen, dass ein Auto „wie der Besen von einer Hexe“ sei – was sie furchtbar erschreckt. Der zweite Erklärungsversuch geht noch mehr daneben: Ein Auto sei, wie wenn man zehn Pferde zu einem Haus einschmelze und das „Pferdehaus“ sie überall hinbringe, wo sie wollten. Ergebnis: „Die Mittelalterleute sind sauer, sie wollen nicht, dass man ihre Pferde schmilzt“.

Oder wenn der Zwerg „Fieberthermometer“ dem Drachen den edelsteinbesetzten Besen geklaut hat und ihn nicht zurückgeben kann, weil er ihn nicht mehr findet. Fieberhaft suchen die Zwerge in der Höhle, „ein Zwerg hat sogar Löcher in die Felsen gebohrt und guckt da nach dem Besen, doch die Löcher sagen ‚Nee, hier ist der Besen auch nicht‘. “

Oder wenn der Zauberer, der grüne Ampeln zu Gurken und rote zu Tomaten verwandelt hat, auf den Vorwurf des Taxi-Fahrgast-Erzählers „Mit Essen spielt man nicht“ kontert, „Ich finde (…), wenn das Essen aufgegessen wurde, dann darf man auch damit gespielt haben.“

Oder wenn …

mairisch Verlag 2021, ISB 978-3-948722-05-0

(Anmerkung: Erst ein Comic, dann ein Kinderbuch… Es werden auch wieder „erwachsenere ‚Gelesen‘ kommen.)

Gelesen: Lucky Luke, Fackeln im Baumwollfeld

Echt jetzt? Ein Western-Comic? Aber mit dem größten Vergnügen!

Der legendäre Westernheld, der schneller schießt als sein Schatten, ist in die Jahre gekommen (eigentlich ist er schon 74, man sieht und merkt es ihm aber nicht an – nur das Rauchen hat er zwischenzeitlich aufgegeben und klemmt sich seitdem einen Grashalm zwischen die Lippen).

Im vorliegenden 99. Band erbt Lucky eine Baumwollplantage in den Südstaaten, Texter Jul macht daraus ein vehementes Plädoyer gegen Rassismus, Nationalismus, Trumpismus und sonst so alle Blödheiten, mit denen das derzeitige Amerika aufwarten kann.

Lucky erfährt vom Erbe während seines Urlaubs in einem ruhigen, verschlafenen Städtchen, dessen Cherokee-Name übersetzt „Siebenschläfer dösen ermattet im Abendrot“ bedeutet. Er hat null Interesse an der Farm und macht sich auf in den Süden, um sie an die schwarzen Farmarbeiter zu verschenken. Was zunächst bei diesen auf großes Unverständnis und dauerhaft bei den weißen Farmern auf heftigsten Widerstand stößt. Allein die köstliche Darstellung dieses arroganten Südstaaten-Farmergesocks ist die Lektüre des Bandes wert. Und die vielen netten Anspielungen: Eines der schwarzen Farmarbeiterkinder heißt z.B. Barack und wird von allen belächelt, weil er die „blühende Fantasie hat“, amerikanischer Präsident werden zu wollen…

Ein sehr politischer Western-Comic. Dass Zeichner Achdé ein Schüler des Asterix-Genies Uderzo ist, ist nicht zu übersehen und rundet das Vergnügen aufs Erfreulichste ab.

Echt jetzt.

Gelesen: Ein Scheiß-Buch

Eigentlich ist das ja eine ganz witzige Idee mit den öffentlichen Bücherschränken, aus denen man sich kostenlos bedienen und in die man nicht mehr benötigte Bücher einstellen kann.

Beides kann und darf jeder – deswegen ist der Griff in so einen Schrank schon mal auch, hm, ein Griff ins Klo.

Ich zog „Lebensborn e.V.“ von Will Berthold heraus, der Buchrücken täuscht ein Sachbuch vor, Verlag Lingen hätte mich allerdings, zugegeben, schon stutzig machen müssen.

Beim Aufschlagen stellt sich heraus, dass es sich um einen der berüchtigten „Tatsachenromane“ handelt, bei denen aus wenig Tatsache viel Roman gemacht wird. Das allein ist bei dem vorliegenden Buch schon übel: Die Faszination des Grauens, die die von der SS installierte Arier-Zuchtanstalt „Lebensborn“ bei vielen hervorruft, verspricht dem ohnehin sehr geschäftstüchtigen Autor hohe Auflagen. Dass das bereits 1975 erschienene Buch derzeit einen kleinen Boom hat, wie man auf den Webseiten des Internetbuchhandels deutlich erkennen kann, lässt befürchten, dass das heute nicht mehr nur die Faszination des Grauens ist.

Dass der Autor (Jahrgang 1924 und selbst Weltkriegsteilnehmer) mit dem Buch auch ein Anliegen hat, und zwar ein ganz übles, wird schnell klar:

Die Protagonisten des Romans, ein junges Liebespaar, beide stramme, aber, wie schnell sehr deutlich wird, hochanständige Nationalsozialisten, geraten aus Führertreue in ein Lebensbornheim und finden das, da sie ja anständig sind, sehr unmoralisch. Offensichtlich waren die meisten Nazis so anständig, denn viele zeigen sich vom „Lebensborn“ abgestoßen. Schuld an den „Auswüchsen“ im beschriebenen Heim ist ein rabiater, dem ungezügelten Alkoholkonsum verfallener SS-Offizier, was zumindest nahelegt, dass bei einem weniger besoffenen Heimleiter alles gar nicht so schlimm wäre.

Wehrmachtssoldaten sind ohnehin ein Ausbund von Tugend und Tapferkeit, die treu „ihrem Vaterland“ dienen. Erst als sie von den Lebensborn-Heimen hören, befällt einige der Zweifel, ob das noch das Vaterland ist, das mit Haut und Haar in der Sowjetunion zu „verteidigen“ sie so gerne bereit waren. Vor den Lebensbornenthüllungen hatten sie offensichtlich mit den Nazis keine Probleme.

Besonders edel sind die Kampfflieger wie der männliche Teil des Protagonistenpaars. Wird er in einen Luftkampf verwickelt, klingt das so: „Klaus schlägt Haken auf Haken, er wehrt sich gegen drei tollwütige Hunde…“. Sein Chef, ebenfalls durch die Lebensborn-Geschichten von den Nazis enttäuscht, wählt gar den Freitod. Aber nicht, ohne dabei in einer Art Kamikaze-Flug einen „Tommy“, wie die Engländer im Buch stilsicher genannt werden, „vom Himmel zu holen“. Dazu liebt er seinen Beruf doch zu sehr.

Zurück ins Heim: Der alkoholisierte Chef lässt dem weiblichen Teil des inzwischen verlobten Paares, Doris, ihr im Lebensborn entstandenes Kind heimlich wegnehmen und schiebt ihr stattdessen ein Polenkind unter, das Doris liebe- und verantwortungsvoll aufzieht. Eine deutsche Mutter ist eben eine deutsche Mutter, egal, gegen wen.

Gleich nach dem Krieg, als alles wieder gut war, geschieht nun Folgendes: Das echte Kind wird gefunden und fühlt sich beim Anblick der Mutter und auch des Vaters, den es nie gesehen hat, geradezu magisch angezogen von seinen Eltern. Die Kraft des deutschen Vater- und Mutterblutes. Das polnische Kind hat, als seine wirkliche Mutter auftaucht, solch edle Regungen nicht. Die Polenmutter muss ihr Kind am Arm packen und gewaltsam wegziehen von seinen deutschen Pflegeeltern.

Ich weiß, Bücherverbrennungen haben einen schlechten Ruf, aber was soll man machen?

Gelesen: Kazuo Ishiguro: Alles, was wir geben mussten

Eine Dystopie des Inhalts schreiben zu wollen, dass junge Menschen geklont werden, um später gezielt als Organspender (vier Spenden pro Person sind vorgesehen) zu fungieren, kann eigentlich nur schiefgehen, sollte man meinen.

Dass es bei Nobelpreisträger Ishiguro trotzdem funktioniert, hat im Wesentlichen zwei Gründe:

Einer ist die ausgesprochen unpathetische Darstellung. Die Akteure, in Heimen aufgezogen, wissen um ihre Rolle und akzeptieren sie. Der einzige Wunsch, der gelegentlich aufkommt, ist der nach ein paar Jahren Aufschub, um echte oder vermeintliche Liebe ausleben zu können. Die persönlichen Entwicklungen, Beziehungen, Empfindsamkeiten der Jugendlichen vor diesem Hintergrund fast schon analytisch zu erzählen bewahrt das Buch davor, ein reiner Teenie- oder Pubertätsroman zu sein.

Der zweite Grund, warum man das Buch mit Vergnügen liest, ist ausgerechnet die sehr traditionelle, fast ein wenig hausbackene Erzählweise Ishiguros: Der Erzähler spricht seine Leser (in der pluralen Höflichkeitsform) an und führt sie straff auktorial (aber keineswegs olympisch!) durch die Handlung. Das geschieht allerdings so geschickt und beiläufig, dass der Leser den erzählerischen Kniff zwar jederzeit durchschaut, sich an dessen Eleganz aber durchaus erfreut, wenn er z.B. mit einem einfachen „Aber das können Sie ja noch gar nicht wissen“ in der Zeit herumgeschickt wird.

Ein nicht ganz neues Thema, ein sehr traditioneller Erzählstil, beides aber wirklich sehr gekonnt ausgeführt.

Zwar nicht nobelpreisverdächtig, aber angenehm zu lesen.

Gelesen: Ursula Krechel: Landgericht

An diesem Buch ist alles spröde:

die Hauptfigur, der jüdische Jurist Richard Kornitzer, seine „arische“ Frau Claire, deren beide Kinder, selbst die kubanische Geliebte, mit der Kornitzer während seiner Exilzeit dort ein Kind zeugt. Die paar wenigen Zeilen, die diesem Kind ziemlich unmotiviert am Ende des Romans zugestanden werden, erlauben eine solche Einschätzung nicht.

Besonders spröde ist die Sprache des Romans: Mehr Berichterstattung als Erzählung, völlig schmucklos, aber auch ohne jede Spur von sprachlicher Eleganz.

Und noch ein Buch über die Geschichte einer Familie vor, während und nach der deutschen Nazi-Zeit. Warum soll man sich das antun?

Weil es sich lohnt.

Weil man tatsächlich neue Einblicke bekommt, wie diese Zeit alles von jedem entfremdet:

Die ohnehin sehr emotionslose Ehe zwischen Kornitzer und seiner Frau wird schließlich zu einer reinen Solidargemeinschaft im Kampf um die Wiedergutmachung des erlittenen Unrechts durch die Nazis.

Die vor Kriegsbeginn nach England gebrachten und dort aufwachsenden Kinder hassen Deutschland naturgemäß und stehen ihren leiblichen Eltern eher abweisend gegenüber.

In den Juristenkreisen, in denen sich Kornitzer nach seiner erkämpften Wiedereinstellung als Richter bewegt, beäugt man sich gegenseitig misstrauisch bis ablehnend, treffen hier doch ehemalige Emigranten und ehemalige Nazi-Juristen im selben Gerichtssaal wieder aufeinander.

Auch im Kampf um vollständige Wiedergutmachung durch Gestapo-Plünderungen des Eigentums, staatliche Zwangsabgaben und zerstörte Karrierechancen trifft der Rückkehrer auf ehemalige Nazis in den Behörden, unter anderem auf einen ehemaligen engen Mitarbeiter des Rüstungsministers Speer, der jetzt als Staatssekretär der jungen Bundesrepublik ausgerechnet für Wiedergutmachungsfragen zuständig ist und den Staatshaushalt vor überzogenen Ansprüchen der Nazi-Verfolgten schützen zu müssen glaubt.

Wie hartherzig und bürokratisch die bundesdeutschen Behörden fast alle Ansprüche ablehnen mit Verweis auf fehlende (und natürlich nicht zu erbringende) schriftliche Belege, empört Kornitzer immer mehr, er beginnt, um Kleinigkeiten zu kämpfen, eine Schreibmaschine etwa oder abhandengekommene Teetassen. Alles natürlich nicht aus materieller Not, sondern im Sinne der Gerechtigkeit.

Dies macht ihn krank, seine Frau, die als Gattin eines Juden nach dessen Auswanderung ebenfalls üblen Nazi-Attacken ausgesetzt war, ist es längst.

Da der Sohn sich weigert, der Redaktion eines biografischen Handbuches der deutschsprachigen Emigration Lebensdaten seines Vaters zu bestätigen (weshalb dieser im Handbuch dann auch nicht auftaucht), stattdessen von der Redaktion (arg plump: in seiner Selbstgerechtigkeit ganz der Alte) fordert, sie solle ihn bei der Durchsetzung seiner Erbansprüche unterstützen, stirbt das Ehepaar Kronitzer relativ früh einen wirklich trostlosen Tod.

Vermutlich muss in diesem Buch alles spröde sein.

Gelesen: Melissa Broder: Fische

Blogeinträge können unterhaltsam, witzig, informativ, ja sogar wichtig sein. Manchmal taugen sie angeblich sogar dazu, in Buchform veröffentlicht zu werden. Bei der amerikanischen Autorin Melissa Broder soll das funktioniert haben.

Eine solche Buchveröffentlichung sollte aber nicht dazu verführen, sich als respektable Schriftstellerin oder Romanautorin misszuverstehen, auch wenn sie bei der Vermarktung eines noch so schlechten Romans natürlich hilfreich ist.

Der Ullstein-Verlag ist nicht dafür bekannt, besonders hochwertige Belletristik auf den Markt zu bringen. Die Dreistigkeit zu behaupten, Broders Machwerk „Fische“ sein ein „ehrlicher, trauriger und urkomischer Roman“ war ihm aber nicht unbedingt zuzutrauen.

Um dieses Urteil zu widerlegen, genügt eigentlich ein Überblick über den Inhalt:

Die Protagonistin Lucy entdeckt mit 38 Jahren, dass sie ein Beziehungsproblem hat und macht sich auf die Suche nach Liebe. Um ein paar Romanseiten zu füllen, werden auch noch die Beziehungsschwierigkeiten von einigen anderen Damen aus einer Frauengruppe erzählt; einen erkennbaren Bezug zur Romanhandlung haben diese nicht.

Vollends peinlich wird die alberne Geschichte, als Lucy sich in einen – natürlich ungemein hübschen – „Meermann“ verliebt. Ja, tatsächlich: Die ungeheuer originelle Idee einer männlichen Meerjungfrau. In ihrem Liebeswahn karrt sie diesen mit einem Bollerwagen über den Strand zu ihrem Domizil.

Den Verkaufserfolg sichern sollen genau so unglaubwürdige wie unappetitliche Kopulationsszenen.

Und natürlich darf der Hund nicht fehlen, der das Böse wittert und, kaum kommt der Meermann in die Nähe, nur noch mit Beruhigungsmitteln zu bändigen ist, an denen er schließlich eingeht. Das ist das Motiv der Schuld in diesem „Roman“, ist der Hund doch das abgöttisch geliebte Tier der Schwester.

Entgleiste Ausflüge ins Philosophische schaffen wenigstens Erheiterung im zunehmenden Leseärger: „Ich fragte mich, ob es überhaupt ein Leben gab, ob es jemals ein Leben gegeben hatte.“

Dass der Meermann letztlich als eine aus Liebesnot entstandene Fantasiegestalt entlarvt wird (obwohl das selbst der unbedarfteste Leser schon seit 70 Seiten weiß), ist der Höhepunkt von Broders literarischer Kunstfertigkeit.

Das Ganze kommt (zumindest in der deutschen Übersetzung von Eva Bonné) sprachlich recht gefällig daher. Dies kann aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass gut verpackter Mist trotzdem Mist bleibt.

Wie hat die Schreiberin selbst so schön formuliert:

„Je angestrengter man sich nach dem Licht reckte, desto weiter klaffte hinterher das Nichts.“

liTrio

Es ist etwas still geworden im Polplotblog. Das liegt aber nicht daran, dass der Blogger eingeschlafen ist.
Am 3.5. und 4.5. ist er mit liTrio unterwegs, und für die neue Jahreslesung gab es viel vorzubereiten und neue Texte zu schreiben.
Genaue Termine sind am 3.5. um 19.30 in der Disharmonie in Schweinfurt und am 4.5. um 19 Uhr im Kunsthaus Michel in Würzburg.
Vielleicht schaut ja mal einer von den Polplotlesern vorbei.
Die neuen Texte gibt es ab Sonntag, 6.5. nachzulesen auf www.textbruch.de

Und dann geht es hier zügig weiter, es gibt einiges aufzuarbeiten.

 

Gelesen: Wilhelm Genazino: Kein Geld, keine Uhr, keine Mütze

Liebe und Ehe sind ein hochkompliziertes Geschäft. Die Bilanz ist oft nur mittelmäßig. Muss man es einfach nur häufiger versuchen? Oder gleichzeitig? Oder doch besser über die eigene Mutter nachdenken? In seinem neuen Roman beantwortet Wilhelm Genazino die entscheidenden Fragen.

So der Klappentext des Verlags zu Genazinos neuem „Roman“. Ist das jetzt einfach nur Ungeschicklichkeit oder ein genialer Marketing-Gag? Seit wann beantwortet Genazino Fragen? Nicht wahr, dachte ich – und schon war das Buch gekauft.

Und keine einzige Antwort darin gefunden. Nur Fragen, die wieder Fragen hervorrufen und weitere. Eine endlose Fragenkette. Man könnte fast meinen, der Verfasser des Klappentextes habe noch kein einziges Buch von Genazino gelesen.

Was man sogar verstehen könnte, denn Genazinos „Romane“ sind sicher nicht jedermanns Sache. In einer fast schon trotzigen Wiederholung (Er selbst sei in einer Art Wiederholungsmodus, erklärt er gegen Ende des Buches) läuft der Ich-Erzähler auf Straßen herum, die er gelegentlich auch mal anspricht, räsoniert über seine ausgetretenen Schuhe und seinen Ekel davor, sich eine neue Hose kaufen zu müssen. Das kennt man alles, und weiter passiert auch immer nichts, was die Genre-Bezeichnung „Roman“ einigermaßen kühn erscheinen lässt.

Dennoch gibt es Leute (wie den Verfasser dieser Zeilen), die kein Buch von Genazino auslassen können. Wer träumt nicht davon, einfach nur seinen Alltagsgedanken nachhängen, seiner Verwunderung über die Welt in allen Details Ausdruck geben zu können, fast lapidar, jedenfalls ohne jegliches Pathos selbst beim Tod der wiedergewonnenen ehemaligen Freundin?

Wohltuend, dass ein in die Jahre gekommener Schriftsteller nicht in entweder weinerliche oder belehrende Altmänner-Literatur à la Walser verfällt, auch wenn Erinnerungen diesmal ein deutlich größerer Raum gegeben wird als in den früheren Romanen. Erinnerungen an die Eltern eben, an diverse ehemalige Freundinnen, die teilweise wieder ins Leben des Erzählers treten, und Erinnerungen an die Kindheit, in der bereits das Lebensziel des Erzählers, auf den Straßen der Stadt „herumzulungern“ und allenfalls eine Karriere als „Hosenberater“ (ausgerechnet!) anzustreben, angelegt scheint.

Und sehr schön wäre es, diesen Ich-Erzähler auf seinen ziellosen Wegen durch Frankfurt oder bei Ausflügen aufs Land, wo er „beglückte Hühner, die verwundert auf ihre selbstgelegten Eier herabschauten“, beobachtete, noch öfter begleiten zu dürfen.

Auch wenn er auf seine vielen Fragen tatsächlich nie eine Antwort weiß.

Gelesen: Charlotte Brontë: Jane Eyre, die Waise von Lowood

Es gibt mehrere Verfilmungen dieser Autobiografie aus dem 19. Jahrhundert – und alle triefen sie vor Kitsch. Das darf man den Filmen aber nicht anlasten, denn das Buch trieft genauso.

Es ist die Aschenputtel-Geschichte von Jane Eyre, die als ungeliebtes Waisenkind aufwächst, sich in einem Erziehungsheim erst als Schülerin, dann als Lehrerin durch Fleiß und Intelligenz allmählich Achtung verschafft.

Das hat alles die Anmutung der Lesebuch-Moral aus den 50er Jahren: „Arm, aber sauber“. Als gelegentlich kecke, oft auch Widerworte gebende Gouvernante erregt sie die Aufmerksamkeit und Achtung ihres Arbeitgebers, was damals wohl als Ausdruck von reichlich unerhörter Emanzipation interpretiert wurde. Einigermaßen zu Unrecht, denn schon verliebt sie sich mit Haut und Haar in den knorrigen Adeligen, dessen Leben in die verwickeltsten Verwicklungen verwickelt ist, die man sich nur vorstellen kann. Und natürlich sieht sie ihre Rolle dabei als eine dienende. So widersteht sie dem heftigen Ansinnen eines Vetters trotz aller Moralkeulen, ihn als Missionarsgattin zu begleiten.

Eines Tages findet sie den wegen diverser Unbilden lange verschollenen ehemaligen Geliebten wieder, wenn auch schwer gebeutelt: wegen eines Unfalls erblindet und verkrüppelt. Was die Liebe nur noch heftiger macht, da sie jetzt ganz im Dienen aufgehen kann.

Aber jetzt mal ehrlich: Wer lässt sich denn nicht gerne mal von allerliebstem Kitsch entführen aus der Welt, noch dazu, wenn der wirklich sehr geschickt in Szene gesetzt ist? Ein Glas Rotwein passt übrigens prima dazu. Und spätestens beim zweiten wird auch die Rührung kommen – na und?

Zusätzliches Vergnügen bereitet die Übersetzung von Maria von Borch, zum Beispiel so schöne Sentenzen wie

„Aber jetzt hielt er jede Empfindung fest in seinem Herzen verschlossen: ich ward nicht mehr gewürdigt, sie in Worte gekleidet zu hören.“

Also: Mal Mut zu Muße – und zum Kitsch!