Selten ist wohl ein Autor so missverstanden und anschließend so missbraucht worden wie Freiherr Adolph von Knigge. Der alte Aufklärer muss heutzutage herhalten als Gewährsmann für Tischsitten und Tanzstundenbenehmen – über beides hat er nie geschrieben. Er hat versucht, rationale Regeln über den „Umgang mit Menschen“ (so auch der Titel seines Hauptwerkes) aller Art aufzustellen und ist dabei u.a. zu dem Ergebnis gekommen, dass mit „Pfaffen vernünftigerweise gar nicht umzugehen“ sei. Er hält es auch für problematisch, Regeln für Verliebte aufzustellen, denn das sei so, als würde man „einem, der die Kolik hat, vorschreiben, nach Noten zu brüllen“.
Und damit sind wir beim Thema.
Bundeskanzler Scholz weigert sich, der Ukraine den Taurus-Marschflugkörper zu liefern mit dem Argument, dass so mit deutschen Waffen russisches Territorium angegriffen und Deutschland zur Kriegspartei werden könnte, was auf alle Fälle vermieden werden müsse.
Er stößt damit bei Teilen seiner Koalition auf heftigen Widerspruch. Die Grünen und die FDP finden ausgerechnet hier sonst kaum mehr wahrnehmbare Berührungspunkte:
So schmieden Anton Hofreiter von den Grünen, von dem man immer ein bisschen den Eindruck hat, er habe den Verstand verloren, seit er nicht Minister geworden ist, und Strack-Zimmermann von der FDP, bei der es diesbezüglich nichts gab, was hätte verloren gehen können, eine ziemlich gruselige KriegerInnen-Allianz.
Das Völkerrecht, posaunen beide unisono immer wieder, erlaube einem angegriffenen Staat, sich zu verteidigen und anderen Staaten, diesen zu unterstützen. Selbst durch einen Einsatz deutscher Taurus-Marschflugkörper mit Hilfe deutscher Soldaten werde Deutschland völkerrechtlich nicht Kriegspartei, erklären sie und finden Unterstützung bei etlichen rechten Staats- und Militärrechtlern.
Mag sein, dass sie formalrechtlich damit sogar richtig liegen. Dennoch ist diese Argumentation einfach nur absurd. Kann sich irgendwer an einen Krieg erinnern, in dem das Völkerrecht oder auch nur das Kriegsrecht nach den Den Haager Verträgen eingehalten wurde? Ist die Vorstellung, irgendwer beschließe, ein Land zu überfallen und dabei hunderttausende Tote in Kauf zu nehmen, sich aber dabei an irgendwelche rechtlichen Regeln zu halten, nicht einfach ein verrücktes Hirngespinst?
Die Den Haager Kriegsregeln (die heute offiziell noch gelten) wurden übrigens um 1900 gemeinsam von den imperialistischen Mächten Europas beschlossen, um ihren Eroberungskriegen einen „sauberen“ Anstrich geben zu können. Bis heute gibt es ja Kreise in Deutschland, die behaupten, die Wehrmacht habe einen „korrekten“ Krieg nach der Haager Landfriedensordnung geführt.
Wahrheitsgehalt knapp unter einem Prozent.
Sich in dem Konflikt mit Russland, das durch den Überfall auf die Ukraine klargestellt hat, dass ihm internationales Recht am Wertesten vorbeigeht und genau das auch durch permanente Massaker und Verstöße gegen ebendieses Recht demonstriert, auf exakt diese missachteten Regeln zu berufen, um damit massiveres deutsches Eingreifen in diesem Krieg zu fordern, ist letztlich einfach verlogen – und das wissen Hofreiter und Strack-Zimmermann auch.
Die Frage ist natürlich, worin – neben der eigenen Geltungssucht – der Grund für diese rigorosen Forderungen liegt.
Glaubt man, Putin mit einer Demonstration der Stärke abschrecken zu können, wo dieser doch in jeder Ansprache demonstriert, das ihn die aberwitzig hohen Opferzahlen unter seinen Soldaten völlig kalt lassen und er bereit ist, sein ganzes Land auf reine Kriegswirtschaft umzustellen?
Oder glaubt man tatsächlich, Putin würde sich im Zweifel der Interpretation des Völkerrechts von Hofreiter und Strack-Zimmermann anschließen und sich dadurch von einem Gegenschlag abhalten lassen?
Das wäre nun wirklich, wie einem, „der die Kolik hat“, ein Liederbuch unter die Nase zu halten.