Ja, aber
Jetzt sei nicht die Zeit für ein „Ja, aber“, wird seit dem Überfall der Hamas auf Israel überall geschrieben und gesprochen. Jetzt zeige sich, wie echt die Solidarität mit Israel sei und wer sich mit seinem „Ja, aber“ als heimlicher Antisemit erweise. Bedingungslose Solidarität mit Israel sei jetzt das Gebot der Stunde.
Ja, aber…
Ist „bedingungslose Solidarität“ nicht genau das, was Diktatoren und Autokraten von ihren Untertanen verlangen? Unkritische Unterwerfung unter ihre Herrschaft? Bedingungslose Solidarität in der Politik, also ein Verbot kritischer Analyse, ist einfach eine dumme und undemokratische Forderung.
Die israelische Regierung erklärt die Palästinenser zu „menschlichen Tieren“ und kündigt an, den Gaza-Streifen von Treibstoff, Strom und Wasser vollkommen abzuriegeln (ein erhellendes Beispiel dafür, wie es um die alltägliche Situation der Menschen im Gazastreifen steht). Drei Stunden später erklärt Olaf Scholz, er sei überzeugt, dass sich Israel an das Völkerrecht halte. Und da soll kein
Ja, aber…
erlaubt sein?
Dass die Hamas eine terroristische Verbrecherorganisation ist, hat sie spätestens mit der Geiselnahme und der offenkundig dokumentierten Folterung und Zurschaustellung der Gefangenen bewiesen. Mit Folterern und Geiselnehmern möchte man nichts zu tun haben, sie, soweit die Gräueltaten auch über eventuell gefälschte Fotos hinaus belegbar sind, nach dem Völkerrecht hart bestraft sehen und sie als Akteure aus der Weltpolitik grundsätzlich verbannen.
Ja, aber…
das soll nicht anders gehen als mit einem flächendeckenden Bombardement von zwei Millionen Menschen, die auf engstem Raum eingekesselt, eingesperrt sind? Von einem Staat, der sich noch vor wenigen Monaten rühmte, gezielt mit Lenkraketen jedes Auto im Gazastreifen, das einen Hamas-Führer transportiert, treffen zu können?
Ja, aber…
Israel richte doch inzwischen „humanitäre Fluchtkorridore“ ein, auf denen die Menschen aus dem Norden in den Süden fliehen könnten. Das zeigt doch, dass sich der Krieg nicht gegen die Zivilbevölkerung richtet.
Ja, aber…
gleichzeitig erklärt der routinierte Sprecher des israelischen Verteidigungsministeriums, dass auch keine Stadt im Süden des Gaza-Streifens sicher sei. Nur halt ein bisschen sicherer als der Norden. Und dann wird Rafah bombardiert, die Stadt, die wenige Stunden vorher noch als mögliches Fluchtziel empfohlen wurde. Und zwei „humanitäre“ Treibstofflaster dürfen inzwischen in den Gazastreifen. Zur Versorgung kamen vor dem Krieg täglich 45.
Menschen als Geiseln zu nehmen, als Erpressungsmittel, ist eines der abscheulichsten Verbrechen.
Ja, aber
Menschen gefangenzunehmen und viele Jahre lang ohne Prozess gefangenzuhalten, darunter nach eigenen israelischen Angaben über 500 KInder und Jugendliche, die an Protesten gegen die illegalen Siedlungen im Westjordanland teilgenommen und z.T. Steine auf israelische Panzer geworfen haben: Da soll man jetzt plötzlich differenzieren, da kommt ein
Ja, aber
das kann man doch nicht gleichsetzen. Ist vermutlich richtig. Aber dieselbe Differenzierung muss doch auch in den anderen Punkten möglich sein.
UNO-Generalsekretär Guterres hat doch Recht mit seinem Hinweis, dass dieser Konflikt nicht erst am 7. Oktober 2023 angefangen, sondern eine lange Vorgeschichte hat (Die übrigens im SPIEGEL 46/2013 weitestgehend korrekt und verständlich dargestellt ist). Da kann auch ein Nicht-Historiker erkennen, dass an dieses Pulverfass „Naher Osten“ eigentlich schon immer Lunten aus verschiedenen Richtungen angelegt werden.
Ja, aber
Deutschland hat nun einmal wegen seiner Geschichte eine besondere Verantwortung für das jüdische Volk. Das ist uneingeschränkt richtig. Und dennoch folgt auch hier ein
Ja,aber:
Muss man nicht auch sehen, dass die Vertreibung der Juden im Holocaust als unmittelbare Folge auch die Vertreibung der Palästinenser aus ihrer Heimat zur Folge hatte? Ist es zulässig, die Verantwortung nur für einen Teil übernehmen zu wollen?
Wenn Netanjahu erst von der „großen Rache“ spricht, dann auf massiven Druck der Amerikaner ein paar symbolische Hilfsmittelchen erlaubt, um einen Tag später öffentlich zu erklären, Israel bemühe sich ja um den Schutz der Zivilisten, sei dabei aber „nicht besonders erfolgreich“ und offensichtlich keinerlei Vorstellungen hat, wie es nach diesem Krieg mit dem Gaza-Streifen weitergehen soll, dann ist doch ein kräftiges
Ja aber
das mindeste, was man einwenden muss.
Für den Verfasser hört hier die Solidarität mit der Regierung Netanjahu auf – nicht mit dem jüdischen Volk, das in großer Mehrheit schon längst nicht mehr hinter seiner Regierung steht. Um nicht in den Ruch des Antisemiten zu kommen und von Mainpost-Journalisten wie Rudi Wais angepöbelt zu werden (der bezeichnet Kritik an der israelischen Regierung als „Antisemitismus hinter der Maske des Gutmenschen“), sei hier noch einmal erklärt:
Der Verfasser steht voll zur moralischen Verantwortung Deutschlands gegenüber dem jüdischen Volk. Der Verfasser ist der Meinung, dass es richtig und notwendig war, dem jüdischen Volk einen eigenen Staat einzurichten (auch wenn man das weiß Gott anders hätte machen müssen und wenn das selbst bei orthodoxen Juden sehr umstritten war). Die Solidarität endet bei einer israelischen Reaktion, die, wie der SPIEGEL zu Recht titelt, den Hass auf hundert Jahre zementieren und im Nahen Osten zu andauernder Gewalt führen wird, was ja auch nicht im Sinne des jüdischen Volks sein kann. Und die übrigens, für alle zurzeit hörbar, den blödesten und dumpfsten Antisemitismus in Deutschland auch noch befördert: Der Staat, der mit großer moralischer Geste weltweit auftritt, muss sich sagen lassen, dass er offensichtlich zwei verschiedene Arten von Menschenrechten kennt: die, für die man vehement eintritt, siehe z.B. das Lieferkettengesetz, und die, bei denen man („wegen der Juden“) lieber wegschaut.
Auch hier ist ein „Ja, aber“ das mindeste, was man für das jüdische Volk tun kann.