Was das hässliche Modewort „woke“ eigentlich bedeutet, weiß offensichtlich niemand: Laut Duden bedeutet es „In hohem Maß politisch wach und engagiert gegen (insbesondere rassistische, sexistische, soziale) Diskriminierung“, wobei darauf hingewiesen wird, dass es auch was ganz anderes bedeuten kann. Neulich war im SPIEGEL zu lesen, dass selbst ein Staatshaushalt „woke“ sein kann. „Woke“ taugt auch als Schimpfwort der Rechten für alles, „was irgendwie als liberal, verweichtlicht und politisch korrekt“ angesehen werden könnte (SPIEGEL 52/S.64). „Woke“ ist also offensichtlich alles, was irgendwie links von Donald Trump einzuordnen ist.
So ein Begriff bringt weder Präzision noch gedankliche Klarheit in einen Sachverhalt, vielmehr taugt er explizit dazu, auf solches zu verzichten und sehr vage und nebulös zu argumentieren. Ist ja auch viel einfacher, als seinen Gegenstand klar und fassbar zu durchdenken.
Mit der Verbreitung dieses „Nur-nicht-nachdenken-Begriffs“ setzt sich auch die gedanklich zugehörige, schwammig nebulöse Gedankenführung in öffentlichen Texten durch.
Ein typisches Beispiel ist die Titelgeschichte der Ausgabe des SPIEGEL vom 30.12.21 (daraus alle Zitate):
„Hatte Marx doch recht?“ titelt der SPIEGEL, um anschließend die Frage aufzumachen, wie sich der Kapitalismus „erneuern lässt“. Da mag jemand, der sich irgendwie mal mit Marx beschäftigt hat, stutzen: Seit wann war es ein Anliegen von Marx, den Kapitalismus zu „erneuern“?
Der würde sich ohnehin ordentlich wundern, wofür alles er in diesem Artikel als Gewährsmann missbraucht wird. So vermuten die SPIEGEL-Autoren, der milliardenschwere Hedgefond-Verwalter Ray Dalio lese neuerdings morgens das „Kapital“, denn: Da es „von Chancengleichheit kaum mehr eine Spur“ gebe, gehöre „der Kapitalismus dringend und grundlegend reformiert“, lässt Dario laut SPIEGEL verlauten. Im „Kapital“ von Marx dürfte er diesen Gedanken allerdings kaum gefunden haben, Chancengleichheit im Kapitalismus…
Sogar die Financial Times wird laut SPIEGEL marxistisch, weil sie fordert, dass der Neoliberalismus „von der Weltbühne abtrete(n)“ müsse. „Der Staat müsse jetzt ran“. Auch diese Forderung wird bei Marx kaum zu finden sein. Im selben Kontext wähnen die SPIEGEL-Autoren, es sei jetzt eine „echte Chance da, einen sanfteren Kapitalismus zu entwickeln. Gerechter. Nachhaltiger.“ Immerhin wird hier nur indirekt suggeriert, das habe etwas mit Marx zu tun.
Besonders die „jungen Menschen … in den Industrieländern“, entdeckt das Blatt, würden immer kapitalismuskritischer. Aber, ist den Autoren wichtig, „nicht aus ideologischen Gründen, sondern weil die Mietpreise explodieren“. Wo auch immer sie da einen Gegensatz entdecken.
Ein japanischer Autor wird zitiert, der mit großem Erfolg behauptet, es bräuchte jetzt ein „postkapitalistisches System“, in dem die „gesellschaftliche Produktion verlangsamt und der Wohlstand gezielt umverteilt werde“. Hat er angeblich bei Marx gefunden. Vielleicht in der neuen japanischen Fassung, die sich bei japanischen Jugendlichen „erstaunlicher Beliebtheit“ erfreut, wie der SPIEGEL voller Anerkennung feststellt: das „Kapital als Manga“, also als Comic.
Marx hat tatsächlich auf den gigantischen Ressourcenverbrauch durch den Kapitalismus hingewiesen. Aber ihm daraus „Ideen für eine gerechtere, grünere – und trotzdem noch marktwirtschaftliche – Ordnung“ zu unterstellen, ist einfach kess.
Zum krönenden Abschluss wird Minouche Shafik zitiert, die Direktorin der Londoner School of Economis, laut der „das ganze Modell, der Kapitalismus, weiterentwickelt werden müsse. Wahrscheinlich sogar radikal“.
Übrigens: Womit Marx recht hatte, taucht in der ganzen Titelgeschichte nicht auf, nämlich in seiner Analyse der Widersprüche dieser Wirtschaftsform, an denen sie zu Grunde gehen würde. Genau das passiert ja offenkundig gerade. Allerdings sind diese Widersprüche laut Marx „antagonistische“, das meint unauflösbare, die auch nicht durch Kompromisse oder Reformen aus der Welt geschafft werden könnten.
Deshalb kann es für ihn auch kein „Kapitalismus-Upgrade zu einer nachhaltigeren Version“, geben, sondern nur die Abschaffung des Kapitalismus und seine Überführung in ein sozialistisches/kommunistisches System. Wer das nicht will, sondern lieber von einem „ökologischen Wachstum“ zur Rettung des Kapitalismus träumt, sollte sich jedenfalls nicht auf Marx berufen.
Denn Marxismus ist gar nicht woke. Auch nicht irgendwie.