Ein prägender Wesenszug der Deutschen ist nach Meinung mancher Nichtdeutscher und mancher deutscher Journalisten die „German Angst“, was offensichtlich ein Brite erfunden haben muss. Der anscheinend noch nie in München beim Oktoberfest war.
Sich dort in Zeiten der Pandemie zwischen tausenden eng aufeinander gedrängter Menschen volllaufen zu lassen, zu singen, zu grölen, zu schwitzen zeugt doch von einer regelrechten Angst-Resistenz. Und ist gleichzeitig ein schönes Beispiel dafür, wo Angst ausgeschaltet wird: Genau da, wo, aus welchen Gründen auch immer, der Verstand ausgeschaltet wird. Beim Oktoberfest funktioniert das besonders effektiv: Mit jeder Maß schwindet der Verstand mehr und die Angst auch.
Eine „ruhige Wiesn“ mit im Schnitt polizeilich aufgenommenen 260 Körperverletzungen (an einem Ort in 15 Tagen!) sind die Folge dieses Angstabbaus.
Eine ähnlich berauschende Wirkung wie die Wiesn-Maß scheint der neu entdeckte Heroismus bei zahlreichen Politikern und Journalisten in der Konfrontation mit Russland zu haben. Und da auch hier der Verstand nicht weiterhilft, bestärkt man sich mit einer kreuzdummen, weit verbreiteten Sentenz: Angst sei ein schlechter Ratgeber.
Meistens ist das anders. Angst ist ein offensichtlich überlebenswichtiges Gefühl in der belebten Welt; alle Tierarten, die sich durch Flucht am Leben erhalten, wären ohne sie längst ausgestorben. Und wer an Davids Erfolg gegen Goliath glaubt, muss auch an die unmittelbare Unterstützung Gottes glauben oder an einen gottserbärmlichen Zufall. Am Verstand kann’s jedenfalls nicht gelegen haben.
Bundeskanzler Scholz wird immer wieder gefragt, warum er die Lieferung moderner Kampfpanzer in die Ukraine nicht forciere. Er erklärt ebenso immer wieder, dass er nichts tun werde, was Deutschland oder die NATO in eine direkte Konfrontation mit Russland bringen würde und dass die anderen westlichen Staaten das alle genauso handhaben würden.
Das wird ihm als Angst vorgehalten.
Die Bellizisten aus FDP, Grünen, sogar teils der taz tun im Gegenteil so, als ob Deutschland die Pflicht hätte, diese Panzer zu liefern, auch wenn kein anderer westlicher Staat daran ernsthaft denkt.
Deutschland müsse (!) endlich seine Führungsrolle (!) in Europa einnehmen, es solle endlich seiner Stärke entsprechend (!) auftreten. Seltsame Erinnerungen drängen sich auf: Trumps „Make America great again“ oder die Ambitionen eines ehemaligen deutschen Führers, Deutschland wieder zur Weltmacht hochzurüsten und zu -bomben (was bei den Deutschen damals auch ziemlich gut ankam…).
Unterstützend schwärmt man im ehemaligen „Sturmgeschütz der Demokratie“, dem SPIEGEL, wieder von den Sturmgeschützen des Westens in der Ukraine, von einer „strategischen Meisterleistung“ der Ukraine , von „einer der besten Gegenoffensiven seit dem Zweiten Weltkrieg“, jubelt über die Erfolge der „14. und 92. mechanisierten Brigaden, der 3. und 4. Panzerbrigade“ usw. Endlich darf da jemand wieder seine Begeisterung für Schlachtpläne ausleben und bemüht gar den preußischen General von Clausewitz (dessen Theorien, wie man weiß, Deutschland im Ersten Weltkrieg ja zu grandiosen Erfolgen geführt haben). Alle Zitate tatsächlich nachzulesen in SPIEGEL 38/2022 S. 84ff.
Offensichtlich kehrt die von SPIEGEL-Autor Fichtner beklagte fehlende „Kriegslust“ ziemlich rasant zurück – in einer geradezu besinnungslosen Kriegsverherrlichung. Ein bisschen mehr Verstand – und ein bisschen mehr Angst – wären hier wohl angebrachter.
Wie war das? Selensky hat zwei Tage vor dem Überfall (ja, das hatten wir schon mehrfach, muss aber immer wieder wiederholt werden) keine Anzeichen für eine militärische Aggression gesehen. Das würde Putin nie wagen, war man sich (auch in den Reihen der Waffenlieferungsfans!) absolut sicher.
Er hat es gewagt, obwohl Russland offensichtlich strategisch sehr schlecht vorbereitet war, und rund ein Fünftel der Ukraine besetzt. Nach ein paar Geländegewinnen mit westlicher Militärhilfe träumt man in der Ukraine (und in Teilen der westlichen Welt) gleich davon, die russischen Besatzer aus der Ukraine „rauswerfen“ und alle besetzen Gebiete einschließlich der Krim zurückerobern zu können. Manche halten das unerklärlicherweise tatsächlich für realistisch.
Natürlich weisen die rumpeligen Aktionen Putins (Teilmobilmachung, Referenden) darauf hin, dass Russland tatsächlich in der Defensive ist. Beruhigend ist das nicht.
Mehrfach wurde Putin – zuletzt wieder von Selensky – mit Hitler verglichen. Wenn dieser Vergleich zutreffend ist, wäre es angebracht, sich zu verdeutlichen, wie Hitler mit seiner sich abzeichnenden Niederlage umgegangen ist: Volkssturm, Kampf „bis zum letzten Blutstropfen“ usw. statt Verhandlungsbereitschaft. Rational war das nicht. Und wenn die deutsche Atombombe rechtzeitig fertig geworden wäre, hätte Hitler sie auch eingesetzt.
Putin hat die Atombombe. Aber, da sind sich alle Kriegsbefürworter einschließlich der obersten taz-Strategin Irina Hartwich einig, er wird sie nicht einsetzen. Weil er, so Hartwich, selber Angst davor hat.
Das wäre schon ein erstaunlich rationales Verhalten, das man da dem russischen Führer mit seinen verrückten imperialistischen Weltmachtambitionen aus dem 19. Jahrhundert und angeblichem Hitler-Nachfolger unterstellt.
Aber vermutlich ist es einfach nur die „German Angst“, die solche Überlegungen hervorruft.