Das könnte man aus dem „offenen Brief“ herauslesen, den „führende“ Aerosolforscher an die politische Elite des Landes geschrieben haben: Maskenpflicht im Freien: Unsinn. Abstandsregeln in Freien: Unsinn. Schließung der Außengastronomie: Unsinn. Nächtliche Ausgangssperre: Kompletter Unsinn!
Da sind doch glatt 95% der Wissenschaftler und Politiker einem fatalen Irrtum aufgesessen…
Da ein „offener Brief“ nun nicht gerade die übliche feine Art der wissenschaftlichen Auseinandersetzung ist, fragt man sich natürlich schon, was hinter diesem Vorgehen steckt. Die Autoren verraten es ziemlich unverblümt:
„Aus der Aerosolforschung sind vielfältige Erkenntnisse zur Übertragung der SARS-CoV-2 Viren über den Luftweg publiziert worden, zusammengefasst und aufbereitet in einem im Winter 2020 erschienenen Positionspapier der Gesellschaft für Aerosolforschung (…). Leider werden bis heute wesentliche Erkenntnisse unserer Forschungsarbeit nicht in praktisches Handeln übersetzt.“
Kränkung durch nicht gebührende Wertschätzung also. Da muss, um auf sich aufmerksam zu machen, schon ein richtiger Knaller her. Mit erwartbarem Effekt: Gegner der Eindämmungsmaßnahmen oder Institutionen wie die Stadt Würzburg, die ihre Unlust, massenhafte Verstöße gegen von ihr selbst erlassene Auflagen zu unterbinden geschweige denn zu sanktionieren, berufen sich begeistert auf „die neuen Forschungsergebnisse“. Der Rest der Welt hat offenbar beschlossen, NICHT über dieses Stöckchen zu springen. Aus guten Gründen.
Eine Crux des Papiers erscheint gleich in der Überschrift: „Ansteckungsgefahren aus Aerosolwissenschaftlicher Perspektive“. Aus dieser, nicht aus orthografischer und auch nicht aus irgendeiner anderen Perspektive. Den Aerosolforschern sei natürlich zugestanden, dass sie sich in ihrem Bereich sehr gut auskennen. Wenn man allerdings nur diesen einen wissenschaftlichen Ansatz berücksichtigt, wird man der Problematik kaum gerecht.
Allerdings scheint Wissenschaftlichkeit ohnehin nicht die Herzensangelegenheit der Aerosolforscher zu sein. Man beruft sich auf eine (!) Studie aus Irland, bei der 200 000 Infektionen untersucht worden seien: „Nur 0,1 Prozent der Ansteckungen hätten laut der Studie im Freien stattgefunden“, so Mitunterzeichner Gerhard Scheuch in einem Interview mit dem ZDF[1], ohne auch nur die leiseste Anmerkung, wie man derlei festzustellen können glaubt. Auch sonst neigen die Äußerungen Scheuchs nicht gerade zu wissenschaftlicher Präzision: Zum Anstecken (er meint vermutlich über Aerosole) brauche man „einfach längere Kontakt Zeiten (sic!) im Freien. Also ich denke mindestens 15 Minuten, sodass man sich überhaupt infizieren kann“. Denkt er.
Es ist inzwischen unstreitig, dass man sich dieses Virus überwiegend durch Aerosole einfängt. Es ist allerdings bei mindestens 95% der Wissenschaftler ebenso unstrittig, dass man sich – wie bei jedem Virus – auch über Tröpfchen, die jeder Mensch beim (laut) Sprechen, beim heftig Atmen bei Sport oder Tanz, beim Feiern) ausstößt und über Schmiereninfektion (Berührungen von kontaminierten Flächen) anstecken kann. Und da kann, wie viele Studien beweisen, auch schon mal ein kräftiger Nieser, lautes Sprechen, wenn man sich gegenübersitzt oder der Atemschwall des entgegenkommenden Joggers völlig ausreichen.
So sehr die vorgeschlagenen Maßnahmen der Verfasser des Offen Briefes bezüglich von Innenräumen zu unterstützen sind: Man mag sich gar nicht vorstellen, wie viele Neuansteckungen sie durch diese unverantwortliche Verharmlosung der Ansteckungsgefahr im Freien provozieren.
[1] https://www.zdf.de/nachrichten/politik/corona-aerosol-forscher-ansteckungen-brief-merkel-100.htm