Jahrelang hat sich das Nachrichtenmagazin der SPIEGEL einen etwas boulevardesken Ruf zugezogen, weil es Politikern penetrant unterstellte, sie würden ihre Entscheidungen nicht von Sacherwägungen abhängig machen sondern von deren Auswirkungen bezüglich ihrer Wahlchancen. Das Verhalten der Länderministerpräsidenten zeigt: Sie treffen ihre Entscheidungen ganz offensichtlich nicht aus Sacherwägungen, sondern wegen erwarteter Verbesserung der Wahlchancen.
Ein paar Beispiele:
Obersachse Kretschmer hat die erste Welle der Pandemie (im unseligen Gleichklang mit der AfD) so lange geleugnet, bis sein Land zum bundesdeutschen Corona-Hotspot Nummer 1 wurde. Auch wenn dort demnächst keine Wahlen anstehen: Es dürften nicht zuletzt die in Sachsen immer noch steigenden Umfragewerte der AfD sein, die ihn plötzlich zum Chefbremser werden lassen, der jetzt schon weiß, dass kein Osterurlaub möglich sein wird.
Karnevalist Laschet will zwar keine Landtagswahlen gewinnen, aber Kanzlerkandidat der Union werden. Laschet, der sein Bundesland, offenbar vertrauend auf die heilende Kraft des rheinischen Frohsinns und des Katholizismus, zum ebenfalls beängstigenden Hotspot hat verkommen lassen, zog, solange er die Unterstützung des Merkel-Flügels der Union bei der Vorsitzenden-Wahl brauchte, die Maßnahmen energisch an, allerdings mit der dümmsten Bemerkung von allen: „Wenn die Fallzahlen hochgehen, muss man anziehen. Wenn sie runtergehen, muss man lockern.“ Als wäre die Pandemie eine Modelleisenbahn, bei der man beliebig den Trafo hoch- oder runterdrehen könnte. Jetzt hält er es für angebracht, im vermeintlichen Streit um die Kanzlerkandidatur deutlich Position gegen Söder zu beziehen, fordert weitgehende Lockerungen und vergleicht Söders eher strengeren Kurs mit der „Bevormundung von Kleinkindern“.
Mister Breitbein Bayern selbst hat in den Umfragewerten gehörig Federn lassen müssen. Und natürlich weiß er, dass das penetrante Gerede von Lockerungen Erwartungen weckt, die zu enttäuschen auf die Politik zurückfallen würden. Prompt stellt er sich hin, warnt vor zu weitreichenden Lockerungen und geht in Bayern mit seinen Lockerungen gleichzeitig deutlich über den Ministerpräsidenten-Beschluss hinaus, indem er nicht nur Schulen, sondern auch Gärtnereien, Nagelstudios (!) und Baumärkte öffnen lässt. Das muss man erst mal hinkriegen.
Zwei Dinge muss man ihm allerdings zugutehalten: Zum einen wird eine der albernsten Schließungsmaßnahmen abgemildert: Während Baumärkte und Gärtnereien geschlossen bleiben mussten, schaltete der angebliche Lebensmitteldiscounter „Norma“ letzte Woche in der Tagespresse ganzseitige Anzeigen, in denen nur Blumen, Gartengeräte bis hin zum Benzinrasenmäher sowie Bekleidung angeboten wurde – und kein einziges Lebensmittel! So viel auch zum angeblich so verantwortungsbewussten Verhalten des Handels, Herr Handelsverbandspräsident Sanktjohanser! Zum zweiten konnte Söder damit seinen Gastwirtschaftsminister Aiwanger ausbremsen, der aus tiefer Sorge um das nicht ausgetrunkene Bier gleich alle Gaststätten und vor allem Brauereigaststätten sofort öffnen möchte.
Den bisherigen Gipfel an Erbärmlichkeit bot allerdings Meck-Pomm-Ministerpräsidentin Schwesig. So lange das Virus die Menschen in ihrem dünn besiedelten Land noch nicht gefunden und deswegen auch nicht angesteckt hatte, verweigerte sie sich so gut wie allen Beschlüssen der Ministerpräsidentenkonferenz. Das kam gut an im Land. Dann begannen die Fallzahlen zu steigen und sie versuchte als einzige Ministerpräsidentin und gegen alle Beschlüsse durch eine innerdeutsche Tourismusgrenze (Betretungsverbot von Meckpomm durch landesfremde Subjekte) die immer noch günstigen Werte niedrig zu halten. Dann knickte sie ein, vor allem vor der Tourismus-Lobby und öffnete recht schnell und großzügig wieder mit der Folge, dass Meckpomm zu einem der infiziertesten Länder wurde. Daraufhin stellte sie sich tatsächlich in bemerkenswerter Schamlosigkeit vor die Fernsehkameras, forderte bundesweit (!) strengere Maßnahmen und erklärte, sie sei schon immer eine heftige Vertreterin bundeseinheitlicher Regeln gewesen. Sich für landeseigene Lockerungen und Schutzmaßnahmen feiern zu lassen, bei der Notwendigkeit von schärferen Maßnahmen sich aber hinter bundesweiten Beschlüssen verstecken zu wollen: Wenn sie doch da wenigstens einmal rot geworden wäre! Landtagswahl im September 2021.
Zu den ganz großen Lockerungsbefürworterinnen gehört Malu Dreyer aus Rheinland-Pfalz (Landtagswahl am 14. März). Sie und viele andere Lockerungsbefürworter erklären, man könne nicht immer nur von Lockdown zu Lockdown gehen, müsste regionale Unterschiede mehr berücksichtigen und die Situation auf den Intensivstationen der Krankenhäuser.
Bloß: Es hat doch gar keinen Lockdown gegeben! Geschäfte des Alltagsbedarfs waren offen, es wurde überall gearbeitet, im öffentlichen Nahverkehr durfte man sich aneinanderkuscheln. Und falls gegen Auflagen verstoßen wurde, hat die Polizei meist geflissentlich auf die andere Seite gesehen. Die Politik hat nie den Mut gefunden, einen notwendigen, wirklichen Lockdown in angemessener Dauer durchzuziehen, um die Infektionen wirklich in Griff zu bekommen. Leider hat man diese Chance durch das allseitige Lockerungsgerede jetzt wohl endgültig vertan.
Was regionale Differenzierungen anrichten können, hat man gesehen, als in Deutschland große Teile des Einzelhandels schließen mussten, Tschechien als vermeintlicher Sieger über das Virus alles wieder aufgemacht hat. Massenhaft sind Bayern, Thüringer und Sachsen zum Einkaufsbummel nach Tschechien gefahren – die Infektionszahlen in diesen drei Ländern stiegen rapide an. Diese Grenze kann man natürlich schließen. Aber man kann kaum die Gänstorbrücke zwischen dem württembergischen Ulm und dem bayerischen Neu-Ulm (exakt 96 Meter lang) sperren um zu verhindern, dass ab Montag die württemberger Ulmer die bayerischen Neu-Ulmer Baumärkte stürmen.
Geradezu zynisch wirkt der ständig wiederholte Verweis auf freie Intensivbetten. Kann sich Pandemie-Bekämpfung wirklich daran orientieren, dass es noch freie Betten gibt, in denen ein Großteil der Menschen nach qualvollem Kampf schließlich stirbt? Man veranstaltet tatsächlich Gedenkfeiern für die Corona-Toten, will aber lockern, bis sich die Intensivbetten wieder ordentlich gefüllt haben? Wer diese Krankenhausabteilungen kennt, wünscht selbst dem übelsten Lockerungsfanatiker nicht, sie jemals nutzen zu müssen.
Mit Scheuklappenblick nimmt jeder Interessensverband nur seine eigene Klientel in Blick. Kinder“schutz“verbände fordern die vollständige Öffnung von Schulen und Kitas, weil inzwischen 30% der Kinder statt 20% vor der Epidemie Ängste und Unsicherheit verspürten. Natürlich sind Kinder in der Epidemie nicht glücklicher als sonst und verspüren Ängste genauso wie Erwachsene. Aber darf man ihnen deswegen eine Normalität vorlügen, die es nicht gibt?
Jüngst wurde gewarnt, dass wegen geschlossener Schulen unter Kindern die Fettleibigkeit zunähme. Gegen Fettleibigkeit hilft weniger essen, mehr Bewegung – oder eine schwere Lungenkrankheit, die in der Regel mit starker Gewichtsabnahme einhergeht.
Und vielleicht sollte man, statt auf willfährige „Experten“, die für jede Forderung gefällige Gutachten erstellen, auf Fachleute hören, die sich mit Kindern wirklich beschäftigen. Der Chef der Kinder- und Jugendpsychiatrie in Würzburg gab zu bedenken, was für Kinder wohl schlimmer sei: Die Freunde ein paar Wochen nicht sehen zu können oder Oma und Opa zu verlieren.