Die Durchsetzungs-Welt

Es ist schwierig festzustellen, wann das alles eigentlich begonnen hat.

War es in den neunziger Jahren, als der angeblich sozialdemokratische Bundeskanzler Schröder sich den Begehrlichkeiten der Wirtschaft in außergewöhnlichem Maße ergab und sich in Deutschland eine Stimmung breitmachte, die dem britischen Brutalo-Liberalismus des 19. Jahrhunderts immer näher zu kommen schien?

Hinfort galt die dümmlich Formulierung von der „Ich-AG“, was nichts anderes bedeutete, als dass jeder seines Glückes Schmied sei, wenn er nur seine Interessen möglichst skrupellos gegen andere durchsetze. Muster-Ich-AG war der Zigarrengerd selbst, war er für sich selbst doch die Gesellschaft, mit der er uneingeschränkt glücklich war.

Dass dabei sozial Schwache ans Harz IV–Messer geliefert wurden, ist ja nur folgerichtig.

Auch in der familiären Erziehung gewann die Vorstellung Oberhand, der Nachwuchs müsse sich in erster Linie durchsetzen, was dazu führte, dass Eltern (der Autor verbürgt sich dafür, das Folgende leibhaftig erlebt zu haben) ihre Kinder am ersten Schultag in der vor der noch verschlossenen Klassenzimmertür wartenden Gruppe aufforderten, sich „vorzudrängeln“, damit sie sich „einen guten Platz“ sichern könnten.

Falls den Sprösslingen im Verlauf der weiteren Schulkarriere die intellektuelle Durchsetzungskraft fehlte, um erfolgreich zu sein, wurde verstärkt versucht, den schulischen „Erfolg“ mit juristischen Mitteln durchzusetzen. Mit Klagen und Rechtsanwälten drohten dabei natürlich nur die Betroffenen der sog. „besseren Gesellschaft“, Unterschicht-Eltern konnten sich diese Schritte in den allerseltesten Fällen leisten.

Angesichts dieser Entwicklungen scheint es angebracht, unsere Gesellschaft wieder mit dem soziologischen Klassenbegriff zu beschreiben.

Auch auf der Straße ist der Klassenkampf längst Alltag. Mit dem selbstverständlichen Recht des Stärkeren beansprucht der SUV-Fahrer eineinhalb Fahrspuren für sich, wobei er das auf deutschen Straßen geltende Rechtsfahrgebot sehr flexibel auslegt. Entgegenkommende Kleinwagen haben sich allerdings an die rechts parkenden Autos zu quetschen und gegebenenfalls auch abzubremsen.

Leider versucht die beiseitegedrängte Klasse nicht, dagegen aufzubegehren, sondern ist, wie meist in der Geschichte, bemüht, das Verhalten des Klassengegners mit den eigenen beschränkten Mitteln nachzuahmen. Die „Ich bin groß, ich bin dick, ich blase meinen Mitmenschen den Zigarettenrauch ins Gesicht, ich bin langsam und laufe grundsätzlich mittig“-Figur auf den städtischen Gehwegen ist dafür ein unschönes Beispiel. Jeder ängstlich ausweichende Entgegenkommende ist für die ein gefeierter Erfolg.

Das Marxsche Basis-Überbau-Modell funktioniert leider auch im Negativen: Die Idee der „Durchsetzungsgesellschaft“ kam vom Überbau, die Basis hat sie überwiegend verinnerlicht und wählt jetzt, ganz dialektisch, entsprechend schlimmere Repräsentanten nach oben.

Trumps „america first“ ist nichts anderes als die Übertragung des Gedankens von der Gesellschaft auf die Politik: Amerika wird sich durchsetzen auf der Welt, Amerika wird der Welt seinen Willen aufzwingen, weil Amerika dazu (vermeintlich) stark genug ist. Dass dabei Millionen von Menschen durch wirtschaftliche und finanzielle Sanktionen gegenüber ihren Staaten ins blanke Elend, nicht selten auch in den Tod getrieben werden, ist diesem Standpunkt herzlich egal.

Beschämend für Europa ist nicht nur, dass man sich Trumps Erpressungen (Wer sich nicht unserem Willen beugt, wird mit Strafen wie z.B. Sonderzöllen gemaßregelt) beugt und bei von den USA befohlenen Boykottmaßnahmen gegenüber Staaten, mit denen Europa eigentlich kein Problem hat, brav mitmacht. Es ist schlimmer: Man demonstriert, das man gerne auch zu denselben Mitteln greift und setzt z.B. einen iranischen Tanker bei Gibraltar fest, weil der angeblich Öl nach Syrien bringen wollte. Dabei hat die EU doch einen Boykott gegenüber Syrien ausgesprochen!

Abgesehen von der Frage, warum ein iranischer Tanker, der nach Syrien will, den interessanten Umweg über Gibraltar nehmen sollte: Seit wann steht ein EU-Beschluss über dem Völkerrecht? Man handelt genauso völkerrechtswidrig wie die USA und benimmt sich damit der Möglichkeit, diese glaubhaft zu kritisieren.

Dass Rassisten in allen Ländern dem amerikanischen Oberrassisten allzu gerne folgen, hat natürlich weniger mit Angst zu tun als mit dem Gedanken, Ausländern zu zeigen, dass man die Macht hat, sie zu unterdrücken und rauszuschmeißen.

Oder Schlimmeres: Wer, wie der amerikanische Präsident, Mexikaner pauschal als Verbrecher und Vergewaltiger bezeichnet und von einer mexikanischen „Invasion“ spricht, ist eindeutig verantwortlich dafür, wenn ein genauso denkender Durchgeknallter die Knarre in die Hand nimmt und die Sache regeln will.

Dann den tief Trauernden zu spielen und aus demselben verlogenen Mund heraus zu erklären, es dürfe in Amerika keine Hassreden geben, ist eigentlich an Gruseligkeit kaum mehr zu überbieten. Nur von der Masse von Doofen, die sich hinstellen und diesem Mordgehilfen Beifall klatschen und unverbrüchliche Gefolgschaft schwören.

Auch hier: Die Herrschenden zeigen, dass sie sich durchsetzen und das Volk so blöd halten können, dass es alles, was sie wollen, mitmacht.

Alles nur folgerichtig.