Mit dem „gesunden Menschenverstand“ zu argumentieren hat immer etwas ziemlich Gefährliches. Meist wird der bemüht, wenn man breite Zustimmung für Entscheidungen unterstellt, die eben mit dem Verstand nichts zu tun haben. Die Nazis nannten das „gesundes Volksempfinden“ – wie viele Sauereien unter Berufung auf dieses veranstaltet wurden, weiß man hoffentlich noch. Immerhin verzichteten sie mit diesem Begriff auf die Unterstellung, der Verstand spiele hier irgendeine Rolle.
Eine von der Bundesregierung eingesetzte Klima-Arbeitsgruppe, die durchaus mit Vertretern aller gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Richtungen, auch der Autoindustrie, besetzt war, hat nun gewagt, ein Tempolimit auf deutschen Autobahnen vorzuschlagen.
Diese „Gängelung“ sei gegen „jeden Menschenverstand“, polterte Verkehrsminister Scheuer sofort los (Die Medien sind sich uneinig, ob er das Attribut „gesund“ verwendet hat). Ein Tempolimit 130 auf Autobahnen würde den CO2-Ausstoß in Deutschland nur um 0,5% absenken. Na, dafür geben wir unser bewährtes „Prinzip der Freiheit“ doch nicht her. Dabei sind 0,5% des gesamten CO2-Ausstoßes schon eine interessante Größe. Vielleicht sollte jemand mal nachrechnen, wieviel Prozent Reduzierung das beim Autobahnverkehr speziell wären? Und dass bei einem Tempolimit nicht nur der CO2-Ausstoß reduziert würde, sondern auch diverse andere Schadstoffe wie z.B. Feinstaub durch Gummiabrieb etc., kann der gesunde Menschenverstand schon mal außer Acht lassen. Außerdem seien die deutschen Autobahnen die „sichersten Straßen der Welt“, wie immer man das auch festgestellt hat.
Dass im Schnitt 400 Menschen jährlich auf deutschen Autobahnen sterben, scheint für Scheuer okay zu sein. Dass „2017 innerorts 5 Getötete auf 1.000 Unfälle mit Personenschaden kamen“, bei Autobahnen aber 20 (Quelle: Website des Deutschen Verkehrssicherheitsrats), was die tödliche Gefahr der Raserei ziemlich eindrucksvoll belegt, ignoriert der Verkehrsministermenschenverstand. Nach demselben Argumentationsmuster könnte ein zentralafrikanischer Staatschef sagen, dass es doch toll sei, dass in seinem Land nur 20 000 Menschen jährlich verhungern. Da müsse man also nichts unternehmen – in den Nachbarländern seien es mindestens doppelt so viele.
Vielleicht sollte man Scheuer an seinen Parteifreund Wiesheu erinnern, der 1983 nachts über die Autobahn und einen polnischen Kleinwagen gebrettert ist. Zugegeben: Dass die beiden tödlich verletzten Polen bei einem Tempolimit noch leben würden, ist unwahrscheinlich. Denn Wiesheu (der zehn Jahre später bayerischer Verkehrsminister (!) wurde), hatte sich auch die Freiheit genommen, vor der Fahrt ordentlich zu saufen. Der hat sich doch nicht durch Gesetze gängeln lassen…
Gegen diese ständige Gängelung durch von der EU festgelegte Obergrenzen des CO2-und Stickoxid-Ausstoßes sind auch ca. 100 Lungenärzte (von 4000 Befragten der „Deutschen Gesellschaft für Pneumologie“). Wenn der gesunde Menschenverstand nicht dagegenspräche, würde man fast glauben, das sind alles Brüder von Scheuer. Denn deren Art der Argumentation weist auf enge Verwandtschaft hin, zumindest gedanklich: Es sei kein einziger durch die Schadstoffe umgekommener Mensch nachweisbar.
Tatsächlich fällt man nicht sofort tot um, wenn man in Stuttgart am Neckartor auf die Straße tritt. Genauso, wie nicht jeder, der nachts über die Autobahn rast, zwei Polen totfährt.
Die Lösung, die Scheuer zu der ganzen Frage findet, ist natürlich genial einfach: Wir müssen nur die Messstationen anders aufstellen. Warum stellen wir die Stationen auch direkt an die Straße, mitten in den Mief? Messstation am Neckartor nur um 20 Meter in einen Hinterhof verschieben – und schon ist die Luft in Stuttgart wieder gesund.
Der Scheuersche „Menschenverstand“ ist es sicher nicht.