Allenfalls ein Rückblick auf die letzten Wochen. Jahresrückblicke überlassen wir lieber dem Spiegel, dessen Redakteure, wie man jetzt weiß, das Wort „Narrativ“ oder „Erzählung“ nicht nur arg gerne, sondern auch mit einer gewissen Berechtigung in der Feder führen. Denn das große Selbstbezichtigungspathos angesichts der Erzählungen von Reporter Relotius ist doch blanke Heuchelei. Seit langem sind derlei Erfindungen im Spiegel an der Tagesordnung: Spiegel-Reporter wissen immer, welcher Politiker was denkt und aus welchen Motiven er handelt. Meist werden als Motive lächerliche persönliche Zickigkeiten unterstellt, für die sich jedes Kindergartenkind schämen würde. Besonders in die finsteren Gedankengänge des russischen Präsidenten haben sich die Geschichtenerzähler vom Spiegel tief eingearbeitet.
Auch dass die M. den M. nicht zum M. machen mag, ist nach dem fachkundigen, objektiven Urteil der Spiegeljournalisten in erster Linie einer persönlichen Abneigung geschuldet.
Dabei liegt auf der Hand, dass kein Mensch den Merz als Minister braucht – und sonst übrigens auch nicht. Der rechte Flügel der Union sähe ihn gerne als solchen und fordert es, und der Wirtschaftsflügel. Klar – ein stockkonservativer neoliberaler geldgeiler Finanzhai verkörpert halt alles, wovon diese beiden Flügel träumen. Aber will den sonstwer? Und ist das großräumige Abgreifen von Geld tatsächlich, wie behauptet, „Wirtschaftskompetenz“?
Braucht es wirklich einen Mann in der Regierung, der erst behauptet, „alles“ für die CDU „geben“ zu wollen, dann, nach der Niederlage bei der Wahl zum Parteivorsitzenden, einen Sitz im Parteipräsidium – wohin ihn die Delegierten des CDU-Parteitages sicher gewählt hätten – beleidigt ablehnt, um zwei Wochen später zu erklären, er würde sich ein Ministeramt selbstverständlich zutrauen?
Demokratie innerhalb der CDU ist offensichtlich eine Mischung aus Amerika und Afghanistan. Der amerikanische Präsident wittert bei jeder politischen Niederlage die übelsten Verschwörungen gegen ihn. Die Merz-Anhänger sind da mindestens ebenso gut drauf: Beim Parteitag habe eine Verschwörerbande um die bisherige Parteivorsitzende die Lautsprecher extra leiser gestellt, drum sei Merzens Rede so blass rübergekommen. Und die heißen Schweinwerfer voll auf sein Gesicht, dass er geschwitzt hat wie sonst nur bei der Steuerprüfung. Deshalb sei das Ergebnis auch gar nicht so richtig echt und außerdem viel zu knapp. So weit, so niedlich.
Die Schlussfolgerung, die die beiden oben erwähnten Parteiflügel – jetzt verstärkt durch die sogenannte „Werteunion“ – ziehen, ist echt afghanistanlike: Beide Kandidaten müssten halt was werden.
2014 fanden in Afghanistan Präsidentschaftswahlen statt. Bei einem ähnlich knappen Wahlausgang bezweifelten die Anhänger des unterlegenen Kandidaten Abdullah die Korrektheit der Wahl (wobei man in Afghanistan natürlich davon ausgehen darf, dass die Korrektheit von Wahlen immer anzuzweifeln ist). Als „Kompromiss“ vereinbarte man, dass dann halt beide was werden sollten: Ghani Staatspräsident und Abdullah Ministerpräsident. Nein, nicht ganz: Das Amt des Ministerpräsidenten lehnte Abdullah beleidigt ab. Aber er bestand erfolgreich darauf, einen Strohmann in dieses Amt einsetzen zu dürfen – so konnte er seine mit Sicherheit nicht lupenreinen Geschäfte fortführen und gleichzeitig de facto als Ministerpräsident regieren.
Ein erfolgversprechendes Modell offensichtlich: Der ukrainische Geldscheffler Poroschenko spürt gerade, dass Geldscheffeln und gleichzeitig Regierungs- und Staatschef zu sein selbst bei der Bevölkerung in der Ukraine nicht gut ankommt. Dabei hat der Merz was voraus: Dieser hätte als Bundeskanzler, wie ihm das wohl vorschwebte, angesichts einer bevorstehenden Wahlniederlage nicht gleich das Kriegsrecht ausrufen dürfen.
Auch die AfD muss sich vorerst mit präfaschistischen Methoden begnügen. In mehreren Bundesländern (auch in Berlin) betreibt sie Webseiten, auf denen Schüler „politisch nicht neutrale“ Lehrer denunzieren sollen. Eine böse Erinnerung und ein übler Vorgeschmack auf das, was kommt, sollte diese Partei wirklich einmal Macht erlangen.
Nun hat eine Berliner Waldorfschule es abgelehnt, das Kind eines hochrangigen Berliner AfD-Politikers aufzunehmen. Überraschend blauäugig und dumm ist die Reaktion der demokratischen Parteien, der Lehrerverbände und der Presse: Man dürfe politische Gegensätze nicht auf dem Rücken der Kinder austragen, gerade eine Waldorfschule müsse allen Kindern offen und neutral gegenüber sein usw.
Sollte man nicht einmal darüber nachdenken, warum ein AfD-Funktionär sein Kind ausgerechnet an einer Waldorfschule anmelden will, einer Schule, die genau das Gegenteil dessen vertritt und vermitteln will, was die AfD propagiert?
Hat man vergessen, dass die Nazis mit Hilfe demokratischer Rechte und Freiheiten an die Macht gekommen sind?
Muss man die Anmeldung dieses Kindes an einer Waldorfschule nicht sogar als Drohung interpretieren?
Wiederholt sich hier nicht ein fataler Fehler, dass man glaubt, eine Partei, deren Vorstandsmitglied (weniger als fadenscheinig dementiert) meint, man müsse zum „Schutz der Grenze“ auch mal die Waffe auf Flüchtlingskinder richten, könne doch eigentlich gar nicht soo skrupellos sein?
Wenn dieser Vater tatsächlich meint, die Waldorfschule sei die beste für sein Kind, warum ist der dann aktiv in der AfD?
So begrüßenswert – und sachlich begründbar – die Ablehnung dieses Aufnahmeantrags ist, so begrüßenswert und sachlich begründbar ist der Schlusssatz dieses Rückblicks, der von einem Leserbriefschreiber der taz geklaut ist. Die taz hatte ein doppelseitiges Interview mit Stoppel-Lindner von der FDP veröffentlicht, in dem dieser sich sinngemäß darüber beschwert, dass die Bundesregierung 30 Millionen Euros dem hart arbeitenden Mittelstand (Merz?) wegnimmt, um sie Arbeitsunwilligen (er meint Harz IV-Empfänger) zu schenken. Leserbriefscheiber S. kommentierte dies und beendete seinen Text mit „Was für ein Arsch!“
Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das genauso formuliert hätte.
Aber die taz zitiere ich natürlich gerne.