Nichts gelernt, SPIEGEL

Es ist kaum zu fassen: Da suhlt sich der Spiegel über 20 Seiten lang in Selbstmitleid wegen Relotius, ein paar Seiten später taucht eine genauso schwulstige Story über Amazon auf, die vor tollkühnen Unterstellungen nur so strotzt.

Autor Guido Mingels spricht keineswegs von sich und ein paar seiner Kumpels, sondern von „uns“, wenn er sich darüber freut, dass er zum Einkaufen nicht mehr in einer Schlange anstehen muss, sondern sich alles – via „Alexa“ – in seine „zugige Holzkammer“ liefern lassen kann, die er offensichtlich so gut wie nie verlässt, denn er ist ja immer da, auch wenn der Paketschlepper „zur Unzeit“ kommt. Wenn man sich die zum Beleg angeführte tägliche Einkaufliste ansieht (Er lässt sie sich natürlich von „Alexa“ vorlesen…), wundert einen nicht, dass er kein Geld mehr für Renovierung oder wenigstens Abdichtung hat.

Wir lieben Amazon, wir fürchten Amazon“. Was soll dieses großmäulige „wir“?

Ich hasse Amazon.

Denn natürlich ist Amazon eine Krake, die ihre Mitarbeiter ausbeutet und sich die Welt als eine Ansammlung von Konsumsüchtigen vorstellt (da schreibt schon der richtige), ob es aber die ganze Welt tatsächlich beherrschen will, wie Mingels unterstellt, bleibt zumindest abzuwarten. Und immer noch bestünde ja die rechtliche Handhabe der Zerschlagung eines solchen Konzerns, auch wenn in den USA diese „Praxis unpopulär“ geworden sei. Ein wirklich wuchtiges Argument!

Letztlich gibt es für den Autor zwei Gründe, warum Amazon immer mächtiger wird: Erstens: Es ist schon mächtig. So sehr, dass es „für den Kunden kein Entkommen mehr gibt“. Grund zwei: Der Kunde (wieder so eine Verallgemeinerung, bei der Mingels von sich auf alle schließt) will ja auch gar nicht mehr entkommen, weil alles soo bequem ist.

„Es gibt kein Entkommen, solange wir nicht entkommen wollen“, folgert er, ein Satz, den Immanuel Kant schon vor 235 Jahren viel überzeugender formuliert hat: „Aufklärung ist der Ausgang des Menschen aus seiner selbstverschuldeten Unmündigkeit“.

Wie kann man nur so borniert sein, freiwillig in seiner („zugigen“!, Frischluft gibt’s immerhin) Stube hockenzubleiben und mit einer schwarzen Coladose zu kommunizieren?

Kleiner Tipp an „uns“: „Wir“ sollten „Alexa“ (falls „wir“ eine haben, laut einer Umfrage der Zeitschrift „digital pioneers“ sind das 7,1 Prozent der Befragten), auf eine Eisenbahnschiene legen (vielleicht bestellt sie im Abgang ja noch einen Nusskuchen), dann einen Einkaufszettel schreiben und damit in den nächsten Laden gehen. So kauft man nicht jede Menge unsinnigen Plunder, entlastet die Umwelt und hat übrigens auch noch die Möglichkeit, mit dem Kassierer oder den Menschen vor dem Regal ein paar nette Worte zu wechseln.

Und zum Renovieren bleibt dann auch was übrig.

 

Nachtrag zum letzten Text

Ich wurde von mehreren Seiten (zu Recht) darauf hingewiesen, dass der Waldorf-Schulverband sich bis heute nicht von seinem eindeutig antisemitischen Gründervater Steiner distanziert.

Das ist in der Tat befremdlich.

Allerdings ist mir nicht bekannt, dass aktuell in den Waldorfschulen Antisemitismus gepflegt würde. Und dass ein AfDler sein Kind wegen angeblicher antisemitischer Tendenzen in die Waldorfschule schickt, die AfD aber fast zeitgleich eine Arbeitsgemeinschaft „Juden in der AfD“ mit großem Medien-Popanz ins Leben ruft…

Was soll das alles sein?

Meiner Meinung nach sind das keine Widersprüche. Sondern exakt dieselben Lügen- und Vertuschungsgebäude, mit denen die Nazis an die Macht gekommen sind. Mit denen hat die bürgerliche Rechte auch „gesprochen“ – bis sie an der Macht waren.

Kein Jahresrückblick

Allenfalls ein Rückblick auf die letzten Wochen. Jahresrückblicke überlassen wir lieber dem Spiegel, dessen Redakteure, wie man jetzt weiß, das Wort „Narrativ“ oder „Erzählung“ nicht nur arg gerne, sondern auch mit einer gewissen Berechtigung in der Feder führen. Denn das große Selbstbezichtigungspathos angesichts der Erzählungen von Reporter Relotius ist doch blanke Heuchelei. Seit langem sind derlei Erfindungen im Spiegel an der Tagesordnung: Spiegel-Reporter wissen immer, welcher Politiker was denkt und aus welchen Motiven er handelt. Meist werden als Motive lächerliche persönliche Zickigkeiten unterstellt, für die sich jedes Kindergartenkind schämen würde. Besonders in die finsteren Gedankengänge des russischen Präsidenten haben sich die Geschichtenerzähler vom Spiegel tief eingearbeitet.

Auch dass die M. den M. nicht zum M. machen mag, ist nach dem fachkundigen, objektiven Urteil der Spiegeljournalisten in erster Linie einer persönlichen Abneigung geschuldet.

Dabei liegt auf der Hand, dass kein Mensch den Merz als Minister braucht – und sonst übrigens auch nicht. Der rechte Flügel der Union sähe ihn gerne als solchen und fordert es, und der Wirtschaftsflügel. Klar – ein stockkonservativer neoliberaler geldgeiler Finanzhai verkörpert halt alles, wovon diese beiden Flügel träumen. Aber will den sonstwer? Und ist das großräumige Abgreifen von Geld tatsächlich, wie behauptet, „Wirtschaftskompetenz“?

Braucht es wirklich einen Mann in der Regierung, der erst behauptet, „alles“ für die CDU „geben“ zu wollen, dann, nach der Niederlage bei der Wahl zum Parteivorsitzenden, einen Sitz im Parteipräsidium – wohin ihn die Delegierten des CDU-Parteitages sicher gewählt hätten – beleidigt ablehnt, um zwei Wochen später zu erklären, er würde sich ein Ministeramt selbstverständlich zutrauen?

Demokratie innerhalb der CDU ist offensichtlich eine Mischung aus Amerika und Afghanistan. Der amerikanische Präsident wittert bei jeder politischen Niederlage die übelsten Verschwörungen gegen ihn. Die Merz-Anhänger sind da mindestens ebenso gut drauf: Beim Parteitag habe eine Verschwörerbande um die bisherige Parteivorsitzende die Lautsprecher extra leiser gestellt, drum sei Merzens Rede so blass rübergekommen. Und die heißen Schweinwerfer voll auf sein Gesicht, dass er geschwitzt hat wie sonst nur bei der Steuerprüfung. Deshalb sei das Ergebnis auch gar nicht so richtig echt und außerdem viel zu knapp. So weit, so niedlich.

Die Schlussfolgerung, die die beiden oben erwähnten Parteiflügel – jetzt verstärkt durch die sogenannte „Werteunion“ – ziehen, ist echt afghanistanlike: Beide Kandidaten müssten halt was werden.

2014 fanden in Afghanistan Präsidentschaftswahlen statt. Bei einem ähnlich knappen Wahlausgang bezweifelten die Anhänger des unterlegenen Kandidaten Abdullah die Korrektheit der Wahl (wobei man in Afghanistan natürlich davon ausgehen darf, dass die Korrektheit von Wahlen immer anzuzweifeln ist). Als „Kompromiss“ vereinbarte man, dass dann halt beide was werden sollten: Ghani Staatspräsident und Abdullah Ministerpräsident. Nein, nicht ganz: Das Amt des Ministerpräsidenten lehnte Abdullah beleidigt ab. Aber er bestand erfolgreich darauf, einen Strohmann in dieses Amt einsetzen zu dürfen – so konnte er seine mit Sicherheit nicht lupenreinen Geschäfte fortführen und gleichzeitig de facto als Ministerpräsident regieren.

Ein erfolgversprechendes Modell offensichtlich: Der ukrainische Geldscheffler Poroschenko spürt gerade, dass Geldscheffeln und gleichzeitig Regierungs- und Staatschef zu sein selbst bei der Bevölkerung in der Ukraine nicht gut ankommt. Dabei hat der Merz was voraus: Dieser hätte als Bundeskanzler, wie ihm das wohl vorschwebte, angesichts einer bevorstehenden Wahlniederlage nicht gleich das Kriegsrecht ausrufen dürfen.

Auch die AfD muss sich vorerst mit präfaschistischen Methoden begnügen. In mehreren Bundesländern (auch in Berlin) betreibt sie Webseiten, auf denen Schüler „politisch nicht neutrale“ Lehrer denunzieren sollen. Eine böse Erinnerung und ein übler Vorgeschmack auf das, was kommt, sollte diese Partei wirklich einmal Macht erlangen.

Nun hat eine Berliner Waldorfschule es abgelehnt, das Kind eines hochrangigen Berliner AfD-Politikers aufzunehmen. Überraschend blauäugig und dumm ist die Reaktion der demokratischen Parteien, der Lehrerverbände und der Presse: Man dürfe politische Gegensätze nicht auf dem Rücken der Kinder austragen, gerade eine Waldorfschule müsse allen Kindern offen und neutral gegenüber sein usw.

Sollte man nicht einmal darüber nachdenken, warum ein AfD-Funktionär sein Kind ausgerechnet an einer Waldorfschule anmelden will, einer Schule, die genau das Gegenteil dessen vertritt und vermitteln will, was die AfD propagiert?
Hat man vergessen, dass die Nazis mit Hilfe demokratischer Rechte und Freiheiten an die Macht gekommen sind?
Muss man die Anmeldung dieses Kindes an einer Waldorfschule nicht sogar als Drohung interpretieren?
Wiederholt sich hier nicht ein fataler Fehler, dass man glaubt, eine Partei, deren Vorstandsmitglied (weniger als fadenscheinig dementiert) meint, man müsse zum „Schutz der Grenze“ auch mal die Waffe auf Flüchtlingskinder richten, könne doch eigentlich gar nicht soo skrupellos sein?

Wenn dieser Vater tatsächlich meint, die Waldorfschule sei die beste für sein Kind, warum ist der dann aktiv in der AfD?

So begrüßenswert – und sachlich begründbar – die Ablehnung dieses Aufnahmeantrags ist, so begrüßenswert und sachlich begründbar ist der Schlusssatz dieses Rückblicks, der von einem Leserbriefschreiber der taz geklaut ist. Die taz hatte ein doppelseitiges Interview mit Stoppel-Lindner von der FDP veröffentlicht, in dem dieser sich sinngemäß darüber beschwert, dass die Bundesregierung 30 Millionen Euros dem hart arbeitenden Mittelstand (Merz?) wegnimmt, um sie Arbeitsunwilligen (er meint Harz IV-Empfänger) zu schenken. Leserbriefscheiber S. kommentierte dies und beendete seinen Text mit „Was für ein Arsch!“

Ich bin mir nicht ganz sicher, ob ich das genauso formuliert hätte.

Aber die taz zitiere ich natürlich gerne.

SchMERZfrei abgehoben?

Friedrich Bierdeckel Merz will CDU-Vorsitzender werden. Dazu verhelfen könnte ihm, glaubt er anscheinend, eine ordentliche Portion Populismus: Den Blick eines misstrauischen Dackels hat er schon, die Hundekrawatte fehlt ihm noch. Die Methoden des deutschen Hundekrawatten- und des amerikanischen Eichhörnchenperückenträgers beherrscht er allerdings bereits souverän: Aussagen in die Welt zu setzen und sich anschließend vehement davon zu distanzieren. Ähnlich wie die AfD-Storch, die erklärt hat, bei dem Votum, gegebenenfalls müsse man an der Grenze auch auf Kinder schießen, sei ihr (leider, leider) die Computermaus verrutscht.

Was im Hirn von Friedrich Bierdeckel verrutscht ist, als er erklärt hat, man müsse über das in Deutschland einzigartige Asylrecht „offen“ diskutieren, ist noch unklar. Dass es genau ein solches Asylrecht in einer ganzen Reihe von Staaten gibt, interessiert ihn nicht (Der Eichhörnchenmann würde sagen, das sind Fakenews). Dass er anschließend kritische Fragesteller barsch und arrogant abkanzelt (Ist das seine von den Medien bewunderte „hervorragende“ Rhetorik?), er habe das deutsche Asylrecht nie in Frage gestellt, das sei einfach falsch, ist storchpreisverdächtig.

Wenn er das Asylrecht nicht in Frage stellen will, das sonst nur die AfD und weiteres rechtes Gesindel in Frage stellen (großes Lob für ihn natürlich von dieser Seite), warum fordert er dann eine „offene Diskussion“? Damit die armen AfDler und andere Nazis endlich auch mal zu Wort kommen?

Zum Klimawandel fällt ihm nur ein, dass man weiterhin Kohlekraftwerke bräuchte, weil norddeutsche Aluminiumfabriken „keine Zehntelsekunde Stromausfall“ verkraften könnten, da sonst ihre „Anlagen zerstört“ würden. Bei dem ihm eigenen Umgang mit der Wahrheit muss man vermuten, dass er weiß, dass das Quatsch ist. Aber er ist ja auch noch Aufsichtsratsvorsitzender der deutschen Tochter von Blackrock, einem Finanzhai, der (neben allen DAX-Konzernen) selbstverständlich auch ordentlich Anteile vom Braunkohlebaggerkonzern RWE hält. Und die müssen natürlich alle gut Gewinn machen, damit Friedrich Bierdeckel seinen Status in der oberen Mittelschicht halten kann.

Aus dieser Interessenslage heraus hat er auch gleich noch einen Tipp, wie man das angebliche Rentenproblem lösen könnte: Die Leute sollten einfach mehr Aktien kaufen, um so ihre Altersversorgung zu sichern.

Aber nein, so hat er das natürlich nie gesagt, oder wenn doch, nie so gemeint! Mehr so als Absicherung zusätzlich zu der immer dünneren staatlichen Rente oder so.

Tja, Friedrich Oberer Mittelstand: Du kannst dir das natürlich leisten, wenn dein Aktiendepot mal um fünf oder acht Prozent absackt. Du könntest dir sogar einen Crash um 70 Prozent locker leisten. Und auch eine Kürzung deines Mittelschichtgehalts von über einer Million jährlich um, naja, 66 Prozent. Da müsstest du zur Not halt mal mit gut 300 000 Euros im Jahr klarkommen.

Aber schon einmal drüber nachgedacht, was es für einen einfachen Mittelständler bedeuten würde, der um eine Überlebensrente von 1500 Euro rackert, wenn da durch „marktübliche“ Schwankungen mal plötzlich zehn oder mehr Prozente fehlen? Die fehlen dann nämlich beim Essen, nicht beim nächsten Aktienschnäppchen. Deswegen kann der sowas auch nicht langfristig aussitzen.

Muss man nicht eigentlich auch vermuten, dass Friedrich Bierdeckel Oberer Mittelstand das alles weiß? Und eigentlich gar nicht so abgehoben ist?

Sondern dass ihn einfach stört, dass in diesem Land irgendwo noch ein bisschen Geld liegt, das noch nicht der Verfügungsgewalt von Blackrock und Co unterliegt. Sondern irgendeiner doofen Sparkasse?

Das wird der sicherlich ändern, der Merz, als CDU-Vorsitzender und Mittelschichtskanzler.